„Toplevel", von Michael Iwoleit
Es ist ein minimaler Eingriff. Auf beiden Seiten ein kleiner Schnitt in die Hornhaut und ein Mikromonitor, der dir unter die Linse geschoben wird. Dazu die beiden WLAN-Module, die dir, ganz unauffällig, als rosige Punkte an den Schläfen haften. Die Implantation wird ambulant durchgeführt und verheilt nach wenigen Tagen. Selten gibt es größere Komplikationen als leichte Rötungen, Bindehautreizungen oder einen vorübergehend etwas verschwommenen Blick. Der Aufwand steht in keinem Verhältnis zu den Möglichkeiten, die der Eingriff dir eröffnet. Im Standby-Modus sind die Mikromonitore transparent. Sie stören nicht, und du nimmst deine Umgebung so wahr wie immer. Eine leichte Berührung an der Schläfe aber genügt, um das Startmenü einzublenden und ins Spiel einzusteigen. Beim ersten Einloggen bist du vielleicht enttäuscht. Anfangs, auf den unteren Leveln, sind es nur wenige Objekte deiner Umwelt, die die Mikromonitore durch künstlich generierte Bilder überlagern. Es kann sein, daß dir ein U-Bahn-Tunnel auf einmal wie der Eingang in eine labyrinthische Höhllenwelt erscheint. Ein Supermarkt könnte sich vor deinen Augen in einen archaischen, von Fackeln durchleuchteten Tempel verwandeln. Und natürlich entdeckst du die anderen Spieler. Die Alltagsidentität hat im Spiel keine Bedeutung. Jeder Spieler erscheint seinen Mitspielern in der Gestalt und mit den Fähigkeiten, die er für seinen Einstiegskredit erworben hat. Der Arbeitskollege, der im Großraumbüro zwei Plätze weiter sitzt, ist auf einmal ein muskülöser Hüne mit starrem Gesicht. Das unscheinbare Mädchen an der Kinokasse hat sich in eine leichtgeschürzte, rothaarige Schönheit verwandelt. Der Zeitschriftenhändler an der Ecke wird zu einem faltigen, weißhaarigen Schamanen. Einer der anderen Spieler hält die Hinweise bereit, die du brauchst, um den nächsten Level zu erreichen. Sprich mit ihnen, finde die passenden Worte, erprobe deinen Scharfsinn. Erkunde deine Stadt, und wenn du die Hinweise richtig zu deuten weißt, findest du in einem leeren Haus oder am Ende einer düsteren Gasse das Magische Tor, den Durchstieg auf die nächste Ebene. (mehr …)