Silent Hill 2
Im Jahr 2001 erschien der Nachfolger des Playstation-Horrorgames „Silent Hill“ – und damit das erste Videospiel, das sich ernsthaft mit Einsamkeit, Krankheit und Tod auseinandersetzte. Auch heute noch erschüttert „Silent Hill 2“ seine Spieler
Videospiele sollen vor allem eines: Spaß machen. Ihr Ziel ist Unterhaltung, nicht Hochkultur. Kritiker des Mediums sprechen Videospielen deshalb die Fähigkeit ab, wie ein Film, ein Buch oder ein Musikstück etwas zur Menschwerdung beitragen zu können. Selbst viele Spieler weigern sich, in ihrem Hobby mehr zu sehen als einen harmlosen Zeitvertreib. Gerade in der Diskussion über Gewalt wird das immer wieder betont: „Ein Videospiel? Das ist doch nichts Ernstes“, heißt es dann, wenn die Auswirkungen eines Spiels auf den Spieler diskutiert werden. Spricht ein Videospiel ernste Themen an, geschieht das in der Regel am Rand, in Nebenmissionen und optional. Keinesfalls darf das Spielvergnügen getrübt werden, indem der Spieler gezwungen wird, sich über Probleme aus dem wirklichen Leben – oder sogar über sich selbst – Gedanken zu machen.
Nicht so in „Silent Hill 2“. Hatte das japanische Team Silent bereits 1999 mit „Silent Hill“ gezeigt, wie schmutzig, krank und kaputt ein Playstation-Spiel aussehen kann, überschritten sie 2001 auf der Playstation 2 auch inhaltlich Grenzen: „Silent Hill 2“ erzählt die Geschichte des jungen Witwers James Sunderland, dessen Frau Mary vor drei Jahren an einer schweren Krankheit gestorben ist. Er hat sich vom Verlust seiner großen Liebe noch nicht erholt, als er zu Beginn des Spiels in die amerikanische Kleinstadt Silent Hill zurückkehrt. In einem mysteriösen Brief wurde er gebeten, jenen Ort am Toluca Lake aufzusuchen, an dem das Paar einst glückliche Tage verbracht hatte. James ist vollkommen verstört, denn der Absender des Briefs ist seine verstorbene Frau. Hat ihm jemand einen bösen Streich gespielt? Bildet er sich den Brief nur ein in seinem Wahn? Oder ist Mary noch am Leben? Es wird die Aufgabe des Spielers sein, dies herauszufinden.
In den ersten Minuten des Spiels, die James auf einem von dichtem Nebel durchzogenen Waldweg nach Silent Hill führen, geschieht erst einmal nichts. Überhaupt nichts. James läuft und läuft, die Kamera wechselt hin und wieder den Blickwinkel, und manchmal ist das Rascheln eines wilden Tieres zu hören, das sich irgendwo im Unterholz herumtreibt. Zu sehen bekommt man es nie. „Ich wollte erreichen, dass der Spieler in den ersten Minuten merkt, wie isoliert Silent Hill von der Außenwelt ist“, erinnert sich Art Director Masashi Tsuboyama.
Ein Spiel so zu beginnen ist radikal. Denn das oberste Videospielgesetz lautet bis heute: Es muss etwas passieren – und zwar viel und schnell. „Silent Hill 2“ jedoch hält sich nicht an diesen Grundsatz. Die Stadt wirkt wie ausgestorben. Immer wieder steht James vor verschlossenen Türen. Er läuft durch leere Wohnungen und Straßen. Hin und wieder findet er einen Schlüssel, einen Zeitungsausschnitt oder einen anderen Hinweis, der ihn auf der Suche nach Mary einen vermeintlichen Schritt weiter treibt. Auf seinem Irrweg begegnen ihm nur wenige Menschen. Und selbst die können James nicht helfen, haben sie doch genug mit ihren eigenen Problemen zu tun. So kann James eine junge Frau namens Angela Orosco, die offensichtlich wie er selbst mit einem schrecklichen Schicksal hadert, gerade noch davon abhalten, vor seinen Augen Selbstmord zu begehen. Und den übergewichtigen Eddie findet James, als dieser gerade dabei ist, über eine Kloschüssel gebeugt zu erbrechen. Harmloser Videospielspaß sieht anders aus.
Die Dialoge zwischen James und seinen Zufallsbekanntschaften sind kurz, starr in ihrer Darbietung und nicht sonderlich gut geschrieben. Das stört aber kaum. Denn „Silent Hill 2“ ist ein Spiel über Menschen, in dem deren Gefühle und Ängste auf subtilere und eindrucksvollere Weise zum Ausdruck kommen als durch das gesprochene Wort. Nahezu jede Häuserwand in Silent Hill ist mit hässlichen Graffiti verziert oder mit Schichten zerrissener Plakate überklebt. Die Tapeten im Inneren der Häuser hängen in Fetzen herunter und geben den Blick auf rissiges Mauerwerk frei. Fenster sind eingeschlagen und notdürftig mit einigen Holzbrettern wieder verschlossen. Jede Oberfläche ist mit Kratzern und Flecken übersät. Unrat liegt in den Straßen, die Zimmer sind verwüstet, und die Feuchtigkeit des allgegenwärtigen Nebels scheint von jedem Material Besitz ergriffen zu haben. Alles zersetzt sich. Die ganze Stadt atmet Verwesung und Angst. In ihr spiegelt sich der Geisteszustand des am Boden zerstörten Protagonisten. Seine Einsamkeit ist es, die der Spieler spürt, wenn er James durch die entvölkerten Straßen und Häuser von Silent Hill stolpern lässt. Seine Schuldgefühle, nicht in der Lage gewesen zu sein, Mary zu helfen, finden ihre Entsprechung im schmutzstarrenden Dekor. Und je mehr sich James in seiner verzweifelten Hoffung auf ein Wiedersehen mit seiner Frau verrennt, desto mehr gerät die Architektur aus den Fugen: Dann sind die Häuser plötzlich mit schweren Tüchern verhängt, die an Leichentücher gemahnen, ein Keller verrenkt sich zum Labyrinth, und ein Krankenhaus mit seinen rostigen Betten und blutenden Wänden wird zur Kirche der Krankheit. Es ist, als hätte sich die Erinnerung an Mary und ihr qualvolles Ende über die gesamte Stadt gelegt. Der Begriff „Geisterstadt“ wird beim Wort genommen, die Seelenqualen lebender und verstorbener Menschen infizieren den Bauplan. Dieses Gestaltungskonzept des Spiels, das jeder Folge der „Silent Hill“-Serie zugrunde liegt, funktioniert auch deshalb so gut, weil es am Spieler ist, sich intensiv mit dieser furchterregenden Architektur auseinanderzusetzen, ihr Spuren und Geheimnisse zu entlocken und schließlich einen Weg zu finden, sie zu durchdringen, um das Ende des Spiels zu erreichen.
„Silent Hill 2“ beschränkt sein Prinzip, jedes Gebäude und jeden Gegenstand zum bedeutungsschweren Symbol zu überhöhen, jedoch nicht auf das Leveldesign. Die Stadt Silent Hill mag zwar von Menschen verlassen sein, James trifft aber immer wieder auf surreale Gestalten, die sich ihm in den Weg stellen. Sie sind halb Mensch, halb Apparatur. Und auch in ihnen erkennt der Spieler die Ängste und Gefühlsregungen der Hauptfigur: Aufreizend zur Schau gestellte weibliche Formen, die auf das über den Tod hinaus bestehende Verlangen James Sunderlands nach seiner Frau verweisen, treffen in ein und demselben Körper auf Zeichen von Krankheit und abstoßende Deformation. Die Kreaturen, die James eine Giftwolke ins Gesicht spucken, wenn er ihnen zu nahe kommt, oder ihn mit unnatürlich verbogenen Gliedmaßen attackieren, sind Angreifer und Opfer zugleich. Der Spieler hat Skrupel, James dazu zu bringen, mit einem Stock auf sie einzuschlagen oder mit einer Schrotflinte auf sie zu schießen. Er verspürt Mitleid, wenn sie unter gekränktem Jaulen zu Boden gehen, noch ein wenig zucken und dann regungslos in einer langsam größer werdenden Blutlache liegen bleiben. Die Lust am virtuellen Töten, die Spieler in so vielen Videospielen überkommt, stellt sich in „Silent Hill 2“ nie ein. Zum Glück kann James den Wesen aus dem Weg gehen, wenn er schnell genug ist.
Dieses ambivalente Verhältnis zu den Bewohnern von Silent Hill, die überbordende Angstarchitektur und das ständig Gefühl des Verlorenseins: Das alles kann einen fertig machen. So sehr, dass man sich schon nach wenigen Stunden aus der Stadt verabschieden will oder bereits zu Beginn eines Besuchs bemerkt, dass man ihn besser verschieben sollte. „Wir wollten den Spieler in seinem tiefsten Inneren erschüttern“, sagt Takayoshi Sato, der für die Animation der Zwischensequenzen verantwortlich war. Es soll sogar Spieler geben, die es nicht fertiggebracht haben, „Silent Hill 2“ zu beenden. Das Spiel geht an die Nieren, weil gebrochene Figuren darin die Hauptrolle spielen. Sie sind dem Spieler viel näher als der polierte Master Chief aus „Halo“ oder eine Kunstfigur wie Lara Croft. Sie haben Schwächen und leiden unter einem Schicksal, das jeden treffen könnte und an dem jeder verzweifeln würde. James Sunderland ist das Gegenteil eines Videospielhelden. Er ringt bereits nach wenigen Schritten, die ihn der Spieler rennen lässt, hörbar nach Atem. Er ist ein kläglicher Schütze. Und er begreift viel zu spät, was um ihn herum wirklich geschieht.
Jedoch: Die Welt von „Silent Hill 2“ ist zwar eine Welt ohne Hoffnung – aber nicht ohne Schönheit. Es gehört zu den vielen Paradoxien des Spiels, dass all der Verfall und all der nach Außen gekehrte Seelenschmerz, der den Spieler umgibt, auf seltsame Weise anziehend wirkt. Nachdem der Spieler eine Weile damit verbracht hat, James auf seinem Weg durch Silent Hill zu begleiten, beginnt er, diesen Gegenort mehr und mehr als abstraktes Kunstwerk wahrzunehmen. Ein im Halbdunkel liegender Haufen Gerümpel wird dann zur Skulptur, schimmelfleckige Tapeten und zugekleisterte Häuserfronten werden zum Gemälde. Nichts funktioniert mehr in Silent Hill, und die nutzlos gewordenen Gegenstände laden dazu ein, als Formen wahrgenommen zu werden, denen man durchaus sehr viel Schönes abgewinnen kann. Auch in der zwischen Lärm und Wohlklang taumelnden Musik von Akira Yamaoka kommt diese Schönheit zum Tragen: Industrial-Collagen treffen auf Klaviermelodien, Garagenrock trifft auf Trip-Hop. Und da der Komponist auch für jedes Geräusch verantwortlich ist, das der Spieler in „Silent Hill 2“ hört, verschwimmen die Grenzen zwischen Klang und Musik. Das tote Rauschen eines Fernsehers mischt sich mit dem Kreischen eines Monsters und wird eins mit einem rhythmischen Hämmern und Kratzen, das aus weiter Ferne heranklingt und doch direkt aus James Sunderlands Kopf zu tönen scheint.
Es ist bedauerlich, dass sich das Entwicklerteam nach den ebenfalls sehr experimentellen Fortsetzungen „Silent Hill 3“ und „Silent Hill 4: The Room“ aufgelöst hat und von den Erfindern der Serie allein Komponist Yamaoka an den darauffolgenden, in England und den USA produzierten „Silent Hill“-Spielen beteiligt war. Wenn sich auch Studios wie Tale Of Tales („The Path“) und Quantic Dream („Heavy Rain“) offensichtlich von „Silent Hill 2“ in ihrer Arbeit inspirieren ließen, hat es ein Spiel von dieser unerbittlichen Intensität nie wieder gegeben. Auch heute, beinahe zehn Jahre nach seinem Erscheinen, lohnt es sich daher, sich nach Silent Hill zurückzuwagen. Auf seine brüchige Weise wirkt das Spiel immer noch frisch. Gerade weil es seinen Reiz aus der Schönheit des Hässlichen zieht, fällt kaum auf, dass die Grafik nicht mehr die jüngste ist. Die traurige Geschichte von James Sunderland und die Musik von Akira Yamaoka gehen den Spielern heute noch unter die Haut. Darüber hinaus hat „Silent Hill 2“ eines erreicht: Es hat den Beweis erbracht, dass Videospiele so beunruhigend und unbequem sein können wie ein Buch, ein Film oder ein Musikstück. So irritierend, wie es reine Unterhaltung nie sein dürfte.
„Silent Hill 2“ ist für die Playstation 2, die Xbox und den PC erschienen. Gebraucht gibt es das Spiel für 15 Euro, für die PC-Fassung muss man unter Umständen etwas mehr ausgeben.
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