„Wie Brüder“

"Wie Brüder"

Vor 15 Jahren gründeten die beiden Ärzte Ray Muzyka und Greg Zeschuk ihre Firma Bioware. Mit Rollenspielen wie „Mass Effect“ und „Knights Of The Old Republic“ wurden sie reich. Ein Gespräch über Freundschaft, Moral und Medizin

Sie haben beide Medizin studiert und tragen den Doktortitel im Namen. Haben Sie das schon einmal zu ihrem Vorteil ausgenutzt?

Greg Zeschuk (lacht): Nach dem Motto „Lassen Sie mich durch! Ich bin Arzt und muss dieses Videospiel ganz dringend ins Presswerk bringen“? Nein, nicht dass ich mich erinnern könnte. Ray Muzyka: Es ist eher so, dass andere ausnutzen, dass wir Ärzte sind. Freunde und Verwandte konsultieren uns gerne, wenn sie gesundheitliche Probleme haben und sich den Weg zum Hausarzt sparen wollen. Zeschuk: Hin und wieder lassen wir unsere Diagnosemuskeln spielen. Aber bei ernsten Sachen schicken wir unsere Freunde dann doch lieber zu einem praktizierenden Arzt. Allein schon, weil wir nicht als Mediziner versichert sind. Nicht auszudenken, wenn wir eine ernsthafte Fehldiagnose stellen würden.

Sie haben sich an der Universität von Alberta in Edmonton, Kanada kennen gelernt, als Sie sich aufs Medizinstudium vorbereitet haben. Wie sind Sie sich begegnet?

Zeschuk: Das war im Chemiekurs. Jeder von uns wollte damals besser sein als der andere. Muzyka: Als wir die Aufnahmeprüfung hinter uns hatten, war der Konkurrenzdruck jedoch nicht mehr ganz so groß. Wir haben dann viel zusammen Kicker gespielt und in Spielhallen abgehangen. Und wenn wir nicht mit dem Studium beschäftigt waren, haben wir die meiste Zeit über Videospiele diskutiert. Zeschuk: Wir sind wie Brüder. Das Gefühl, es besser machen zu müssen als der andere, bricht immer mal wieder hervor. Aber wir wissen auch, wie wertvoll unsere Freundschaft und unsere Zusammenarbeit für uns ist. Unsere ähnlich verlebte Kindheit – Rays und meine Eltern waren Lehrer – und unsere gemeinsame Leidenschaft für Spiele haben dazu geführt, dass wir schon damals einen ähnlichen Blick auf die Welt hatten. Den teilen wir auch heute noch. Meistens.

Hat Ihre Leidenschaft für Computerspiele Sie jemals am Studieren gehindert?

Zeschuk: Wir haben damals wirklich sehr viel gespielt: „Wizardry“, „System Shock“, „Wasteland“, „Ultima“ … aber wir waren von der Medizin mindestens ebenso besessen wie von Videospielen. Daher haben wir immer im richtigen Moment die Konsolen ausgeschaltet und uns auf unsere Bücher und Prüfungen konzentriert. Muzyka: Wir haben sogar einen Weg gefunden, unser Interesse für interaktive Software und Medizin zu verknüpfen. Die medizinischen Lernprogramme für den PC sind uns damals sehr veraltet vorgekommen – vor allem, als wir sie mit dem verglichen, was in Videospielen bereits möglich war. Wir haben uns also daran gemacht, Programme zu entwickeln, die besser dazu geeignet waren, Studenten auf die Arbeit am lebenden Patienten vorzubereiten. Wenig später waren der „Säure-Basen-Simulator“ und eine Simulation des menschlichen Verdauungstrakts geboren. Beide Programme sind später von einer Firma für Pharmazeutika gekauft worden und kamen in ganz Kanada zum Einsatz.

Das klingt alles überaus vernünftig und erfolgsorientiert. Aber Sie haben es während Ihrer Studentenzeit doch sicherlich auch mal richtig krachen lassen, oder?

Muzyka: Und ob. Wir waren beide Mitglieder einer Comedy-Truppe, die jedes Jahr ein extrem vulgäres Stück namens „Med Show“ auf die Bühne brachte. Ich möchte nicht näher ins Detail gehen, aber was wir damals aufgeführt haben, war schon ziemlich ekelig. Die biertrunkene Studentenschaft hat jedoch jede Minute geliebt. Bezeichnenderweise ist die Show mittlerweile an der Uni verboten. Greg und ich gehören zu den sehr wenigen Menschen auf diesem Planeten, die Videoaufzeichnungen der Aufführungen besitzen. Die zeigen wir aber niemandem.

Sie haben beide eine Zeit lang als Ärzte praktiziert. Was waren Ihre Spezialgebiete?

Muzyka: Ich habe in der Notaufnahme gearbeitet. Das ist Adrenalin pur. Ich habe Unfallopfer behandelt, Wunden genäht und klinisch Tote reanimiert. Alles sehr interessant! Zeschuk: Ich war in der Geriatrie tätig und habe mich also vorwiegend um ältere Menschen und die ihrem fortgeschrittenen Alter geschuldeten Beschwerden und Krankheiten gekümmert. Was ich am meisten vermisse, wenn ich an meine Zeit als praktizierender Arzt zurückdenke, ist der Kontakt zu den vielen Menschen. Muzyka: Geht mir genauso. Diese Nähe und die Fähigkeit, anderen Menschen wirklich helfen zu können, ist das Schönste an dem Beruf.

Sie haben gelernt, Krankheiten zu heilen und Leben zu retten. Jetzt verdienen Sie mit dem Verkauf von Unterhaltungssoftware Millionen Dollar. Haben oder hatten Sie deswegen schon einmal ein schlechtes Gewissen?

Muzyka: Nein, nie. Weil ich denke, dass wir auch mit unseren Spielen Gutes tun. Videospiele sind Kunst. Genauso wie Musik oder ein Buch können sie dazu beitragen, das Wohlbefinden eines Menschen zu verbessern, indem sie ihn seine Probleme oder Schmerzen vergessen lassen. Zeschuk: Tatsächlich war der Übergang von der Medizin zu Bioware ein fließender. Wir haben nach und nach immer weniger Stunden in der Praxis oder im Krankenhaus verbracht und immer mehr Zeit in unsere Spiele gesteckt. Das hat sich für mich eher wie eine Evolution angefühlt, nicht wie ein Berufswechsel.

Wie hat die Arbeit in der Medizin Ihren Blick auf Ihre Mitmenschen verändert?

Zeschuk: Ich habe während meiner Zeit als Mediziner den Wert von Teamwork schätzen gelernt: Mit Pflegern, anderen Ärzten und den Patienten selbst gemeinsam an der Lösung eines Problems zu arbeiten hat mich tief geprägt. Diesen Sinn für Zusammenarbeit haben wir beide uns auch bei Bioware erhalten. Muzyka: Um ein guter Mediziner zu werden und es auch zu bleiben, gehört es dazu, sich stetig weiterzubilden, Bücher zu lesen und mit den Kollegen im ständigen Diskurs zu stehen. Diese Gewissheit, niemals genug gelernt zu haben, ist auch in der Videospielbranche sehr hilfreich. Außerdem gehört es zu unserer Arbeitsphilosophie bei Bioware, Teammitglieder als Individuen zu begreifen. Der Ansatz der ärztlichen Diagnose, nicht nur den Menschen, sondern sein gesamtes Umfeld und seine familiären Verhältnisse mit einzubeziehen, lässt sich auf jede Form des Miteinanders übertragen. Zeschuk: Wir fühlen uns unserer Firma, unseren Fans und auch unseren Produkten gegenüber in hohem Maße verantwortlich. Dieses Verantwortungsgefühl ist für mich eng mit meiner Vergangenheit als Mediziner verknüpft. Muzyka: Für uns ist auch ein Spiel wie ein Patient, dessen Entwicklung man genau beobachten muss. Wir sind uns bewusst, dass es oftmals Kleinigkeiten sind, die große Auswirkungen auf den Gesamtzustand eines Spiels haben. Verliert man sie aus den Augen, kann es passieren, dass ein Spiel schnell krank wird.

In vielen Ihrer Rollenspiele sind Seuchen, genetische Manipulation und Überbevölkerung ein Thema. Wie besorgt sind Sie angesichts der aktuellen Entwicklungen in der Welt?

Zeschuk: Es fällt schwer, nicht besorgt zu sein – erst recht als jemand mit medizinischem Hintergrund. Je mehr Ahnung man vom potenziellen Verlauf einer Epidemie hat, desto größer ist die Angst. Zum Glück gibt es Abertausende talentierte Männern und Frauen, die ihre Karriere in der medizinischen Forschung oder als ausübende Ärzte nicht an den Nagel gehängt haben, um Videospiele zu programmieren.

Eine der interessantesten Figuren in dem Bioware-Spiel „Mass Effect 2“ ist Arzt: Dr. Mordin Solus. Wie viel von Ihnen steckt in ihm?

Zeschuk (lacht): Ich bin mir nicht sicher. Nicht ganz unwahrscheinlich, dass wir unseren Entwicklern für Dr. Solus als Vorlage gedient haben. Ich persönlich liebe den Kerl. An ihm zeigt sich, was Bioware-Spiele meiner Meinung nach auszeichnet: Er verfügt über eine sehr vielschichtige und ausgeprägte Persönlichkeit mit einer bewegten Geschichte. Es lohnt sich für den Spieler, ihn näher kennen zu lernen und in seiner Vergangenheit zu bohren.

Mordin Solus ist auch deshalb so interessant, weil er im Laufe seiner Forscherkarriere vor schwer wiegende Probleme gestellt wurde. Er musste Entscheidungen über Leben und Tod fällen, die ihm naturgemäß nicht leicht gefallen sind und ihn auch in seinem späteren Leben zu beschäftigen scheinen. Bioware-Spiele sind bekannt dafür, ihre Figuren mit solchen moralischen Dilemmata zu konfrontieren. Wa-rum ist Ihnen das wichtig?

Muzyka: Weil wir unsere Spieler immer wieder aufs Neue herausfordern wollen. Unser Ziel ist es, in ihnen eine tiefgehende, glaubhafte Gefühlsreaktion hervorzurufen. Aus diesem Grund fassen wir Videospiele auch als Kunstform auf: Sie sind in der Lage, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Ich denke nicht, dass unser Schwerpunkt auf moralischen Entscheidungen uns automatisch zu Moralisten macht. Es ist uns vielmehr wichtig, dass der Spieler anhand der Entscheidungen, die er fällt, etwas über sich selbst herausfindet. Zeschuk: Für mich sind unsere Games wie Spiegel, mit denen die Menschen einen Blick ihre eigene Seele riskieren können.

Haben Sie sich selbst in Ihrem Leben einmal in einer moralischen Zwickmühle wiedergefunden, die mit den Zwickmühlen in Ihren Spielen vergleichbar sind?

Muzyka: In unserer Position sind wir beinahe täglich dazu gezwungen, Entscheidungen zwischen mehreren Alternativen zu fällen, die unvereinbar scheinen. Das gilt für die Medizin genau so wie für die Kunst. Und natürlich erst recht für die geschäftliche Seite. Zeschuk: Am schwersten fällt es mir nach wie vor, um zwei Uhr nachts die Entscheidung zu fällen, ob ein vermeintlich fertiges Spiel das Entwicklerstudio verlassen und im Presswerk millionenfach kopiert werden darf. Das ist immer ein ewiges Hin und Her. Wir rufen dann ständig Leute aus dem Entwicklerteam an und fragen: „Seid ihr sicher, dass das Spiel fertig ist? Sind wirkliche keine schweren Fehler mehr drin?“ Die Zweifel sind oft unerträglich. Irgendwann wird die Anspannung dann jedoch so groß, dass einer von uns beiden die Entscheidung fällt: „Ja, das Spiel ist jetzt fertig.“ Dr. Raymond Muzyka ist Geschäftsführer von Bioware. Als Kind nahm er zehn Jahre lang Klavierunterricht und studierte im Anschluss Musikgeschichte und Harmonielehre. Am liebsten entspannt er zu der Musik von Miles Davis. Seine Spielleidenschaft wurde geweckt, als ihm seine Großeltern als kleiner Junge das Pokerspielen beibrachten. Neben seiner Arbeit bei Bioware nimmt er regelmäßig an großen Pokerturnieren teil. Bis heute ist er der einzige Spieler, der das DICE-Turnier zweimal gewonnen hat. Dr. Gregory P. Zeschuk ist Vizepräsident von Bioware und außerdem Direktor von Codebaby, einer Firma, die eine Software anbietet, die es erlaubt, sprechende Avatare in Webseiten einzubinden. Er gilt als Gourmet und Bierkenner (seinen Aufenthalt in Köln anlässlich der Gamescom hat er dazu genutzt, so viele Kölsch-Sorten wie möglich zu trinken). Wie Muzyka ist Zeschuck großer Musikfan und ständig auf der Suche nach ungehörten Klängen. Noch eine Gemeinsamkeit: Beide verraten ihr Alter nicht.
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von Chris Rotllan / Oktober 2nd, 2010 /

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