Fallout: New Vegas
Nach dem Erfolg von „Fallout 3“ besinnt sich der Nachfolger auf Tradition: Viele Entwickler, die 1997 am ersten Teil mitgearbeitet haben, sind für „New Vegas“ zurückgekehrt. Chefdesigner Chris Avellone nimmt uns mit in die Wüste
xbox 360 | ps3 | pc
Entwickler Obsidian | Publisher Namco Bandai | Termin 22. Oktober | Preis 50-70 Euro | USK 18 | Spieler 1
Zwei Schüsse in den Kopf, dann wird der Bildschirm dunkel. Er wird erst wieder hell, als ein Roboter Erde beiseiteschaufelt, einen leblosen Körper aus einem Grab hebt und ihn zu einem Doktor bringt. „Fallout: New Vegas“ beginnt mit Tod und Wiederbelebung des Protagonisten. Er bekommt einen neuen Namen, ein neues Gesicht und neue Fähigkeiten, dann darf er sich wieder hinauswagen in die Mojave-Wüste und endlich auf die Suche gehen nach jenen, die ihn getötet haben.
Auftakt von „New Vegas“ ist eine Variation der Eröffnungsszene von „Fallout 3“. Dieses Spiel begann mit einer Geburt, es folgte eine Kindheit in behüteter Umgebung – einem Bunker unter strenger Herrschaft –, während der die Spieler langsam die Persönlichkeit ihrer Figur festlegen konnten. Dann zogen sie mit ihr hinaus in die Welt und erkundeten das Leben außerhalb des Bunkers – ein Leben, wie es nach einem Atomkrieg aussehen könnte. Anders dagegen in „New Vegas“: Da machen die Spieler ihre ersten Schritte in der Hütte des Doktors, irgendwo in ei-nem Dorf in der Mojave-Wüste, irgendwo außerhalb von New Vegas, dem neuen Las Vegas. Sie legen ihre Charakterwerte fest und brechen auf in die Wüste, folgen Auftraggebern oder orientieren sich am Horizont, wo Abenteuer und ferne Städte locken. Sie können ihre Fähigkeiten an der Waffe verbessern oder sich bei anderen Wesen einschmeicheln und so das Ödland erkunden.
Das Prinzip, dem Spieler größtmögliche Freiheiten zu bieten und ihn mit Identitäten spielen zu lassen, zieht sich seit jeher durch die Reihe: Der Spieler kann nicht nur wählen, ob er als muskelbepackter Analphabet, als neunmalkluger Schwächling oder als irgendwas dazwischen die Endzeitwelt erkunden möchte, sondern auch, ob er das Spiel mit der Waffe in der Hand gewinnen will oder mit der Macht des Wortes.
Alles auf Anfang
Bei seinem Erscheinen 1997 brach „Fallout“ mit seiner retro-futuristischen Welt radikal alle geschriebenen und ungeschriebenen Regeln für Rollenspiele. Das erste „Fallout“ bewies, dass nicht nur Ritter, Drachen und Orks ein solches Spiel bevölkern müssen, sondern dass auch für Mutanten, Riesenskorpione und Supersoldaten Platz sein kann. Das Spiel kleidete die moderne Welt ins Gewand der fünfziger Jahre, tauschte Computer-Transistoren gegen Röhren, gab Autos geschwungene Heckflossen und Atomantriebe und legte dann erst einmal alles in Schutt und Asche, um aus den radioaktiv verseuchten Ruinen der Welt neue Städte und Gemeinschaften aufsteigen zu lassen: Hippiekommunen, Räuberlager, diktatorische und militaristische Staaten. Jede Siedlung war eine Option für den Spieler und jede seiner Handlungen eine Entscheidung für oder gegen bestimmte Gesellschaftsformen.
Der Schauplatz des neuen „Fallout“ ist die Mojave-Wüste mit ihrem Mittelpunkt New Vegas. Das ist nicht nur meilenweit entfernt von Washington, in dem der Vorgänger gespielt hat. Es ist gleichzeitig eine Rückkehr der Serie an die Westküste der USA. Dorthin, wo bereits die ersten Teile der Reihe verortet waren: Kalifornien, Nevada, Arizona. Und damit in eine Gegend, die viel besser zu den Szenarien von „Fallout“ passt als das Machtzentrum der USA. Die weiten Landschaften des amerikanischern Westens haben stets neuen Gesellschaftsformen und Weltanschauungen Raum geboten, und diese waren immer auch wichtige Themen der Rollenspielreihe, die gerade weil sie nicht vor politischen Themen zurückgeschreckt ist, zu einer der wichtigsten Rollenspielserien der Computerspielgeschichte wurde.
Gleichzeitig kehrt „Fallout“ zurück zu den Entwicklern, die bereits bei den ersten Teilen mitgewirkt haben – bevor die Serie das erste Mal eingestellt wurde, bevor die Rechte verkauft wurden und bevor Bethesda die Reihe mit dem großen Erfolg „Fallout 3“ fortsetzte. Bethesda hat nun das Entwicklungsstudio Obsidian Entertainment damit beauftragt, einen neuen Teil zu erstellen. Dessen Chef ist Feargus Urquhart, der früher das zu Interplay gehörende Black-Isle-Studio geleitet hat, in dem die ersten beiden Teile von „Fallout“ entstanden. Interplay war einst mit den „Baldur’s Gate“- und „The Bard’s Tale“-Reihen ein erfolgreicher Produzent von Rollenspielen, doch Management-Fehler und gierige Investoren trieben die Firma in den Ruin. Einer der damaligen Mitarbeiter von Urquhart war Chris Avellone, und er ist es noch heute – als Chefdesigner von „New Vegas“. Avellone gilt als Hüter der „Fallout“-Welt. Er hat die „Fallout Bibel“ erstellt, ein Kompendium, das alles zusammenfasst, was über die Spielewelt bekannt ist. Er war lange Zeit in Fanforen aktiv und hat Fragen zu seinen Games beantwortet – selbst in Zeiten, in denen die Serie längst als beendet galt. „Das war Teil meiner Arbeit“, sagt er heute abwehrend, wenn man ihm Besessenheit unterstellt. Erschöpft sitzt der Designer im Konferenzraum von Obsidian, es ist Endspurt bei „New Vegas“, Fehler im Programmcode müssen gefunden und beseitigt werden. Eine konzentrierte, anstrengende Arbeit ist das. „Die ‚Fallout Bibel‘“, sagt er, „ist bei der Vorbereitung zu ‚Van Buren‘ entstanden.“ „Van Buren“ war der Arbeitstitel eines vor zehn Jahren geplanten dritten Teils der Reihe, dessen Produktion kurz vor Fertigstellung gestoppt wurde. „Fallout: New Vegas“ ist der vierte Serienteil, an dem Avellone beteiligt ist. Dazu zählt auch „Brotherhood Of Steel“, ein halbgarer Konsolenableger, den er ungern erwähnt. Zu seinem ewigen Bedauern hat er die Mitarbeit am ersten Teil verpasst, weil er damals bei Interplay ein unspektakuläres Rollenspiel namens „Descent To Undermountain“ fertig stellen musste. Neidisch musste er seinen Kollegen damals dabei zusehen, wie sie ein postnukleares Rollenspiel entwickelten und dabei sogar alle Freiheiten hatten, weil „Fallout“ bei Interplay niemand ernst nahm. Doch das Spiel wurde ein Erfolg, zumindest bei den Kritikern. „Mich hat vor allem das Ende umgehauen“, sagt Avellone heute, und seine Augen leuchten kurz auf – „unglaublich, dass man den letzten, größten Gegner mit Gesprächen besiegen konnte.“ Eine prägende Erfahrung war das: In „Planescape Torment“ hat er die Idee aufgegriffen, und auch „New Vegas“ kann kampffrei durchgespielt werden.
Wunden heilen nur langsam
Wer will, kann es sich im neuen „Fallout“ aber auch richtig schwer machen. Entscheidet sich der Spieler, das Game im „Hardcore-Modus“ in Angriff zu nehmen, steigt der Schwierigkeitsgrad rapide: Die Hauptfigur muss regelmäßig Nahrung und Wasser zu sich nehmen und Schlafpausen einlegen, um nicht zugrunde zu gehen; Wunden heilen nur langsam, jeder Kronkorken und jede Patrone, die sie mit sich herumschleppt, verlangsamt ihren Schritt und lässt sie schneller ermüden. Doch das Spiel bietet auch neue Elemente, die das Überleben erleichtern: Waffen lassen sich sofort reparieren und modifizieren, ohne dass dafür erst ein entsprechendes Wissen erworben werden muss. Der Spieler kann Blumen pflücken und Kräuter sammeln, um sich aus den Zutaten Medizin anzurühren. Das neu eingeführte „Companion Wheel“ erleichtert die Interaktion mit Weggefährten, die ihn auf Wunsch durch das Ödland begleiten: Durch simples Anwählen von Optionen auf einer Drehscheibe kann ein Kumpane in ein Gespräch verwickelt, um Unterstützung im Kampf gebeten oder zum Packesel heruntergestuft werden. Wer es gerne absurd mag, kann die „Wild Wasteland“-Option aktivieren, woraufhin das Spiel allerlei Albernheiten und Anspielungen an die früheren „Fallout“-Teile in der nuklearen Wüste verstreut.
Inspirationen für das Spiel zu sammeln war einfach: Nur knapp zwei Stunden nordöstlich von Irvine, dem Vorort von Los Angeles, in dem Obsidian seine Büros hat, beginnt die Wüste, in fünf Stunden ist man in Las Vegas. „Unser Chef-Grafiker ist lange mit dem Motorrad herumgefahren und hat Fotos gemacht: alte Schilder, Ruinen von Häusern, Tankstellen, Bahnhöfe“, sagt Avellone. Vieles davon ist in das Spiel eingeflossen und hat auf Anhieb gepasst, weil sich der Retro-Futurismus von „Fallout“ seit den Anfangstagen grafisch am Stil der fünfziger Jahre orientiert. In dieser Ära sind die Schilder entstanden, die man heute noch in der Wüste sieht. Schilder, auf denen „Roadrunner’s Retreat“ steht oder „Roy’s Motel“. Sie grüßen immer noch die wenigen Reisenden, die sich in die Mojave verirren – die dazu gehörigen Restaurants und Herbergen sind jedoch längst geschlossen und verfallen. Hier ist der amerikanische Traum gescheitert, die Besiedlung des Westens aufgegeben, hier hat die Wüste gesiegt. Zwischen Joshua-Bäumen und Creoste-Büschen leben nur die zähesten Tiere: Eidechsen, Schlangen und Kojoten. Die Mojave ist ein guter Schauplatz für ein Game, das in einer Zeit spielt, in der sich die Zivilisation langsam von dem Versuch erholt, sich selbst auszulöschen.
Zwischen den Welten
Das Erscheinungsbild von „New Vegas“ ist also stimmig und aus einem Guss, aber eine Schönheit ist das Spiel nicht – gerade im Vergleich zu einem anderen Open-World-Game, das im Südwesten der USA angesiedelt ist: „Red Dead Redemption“.
Der Himmel in „New Vegas“ ist etwas zu blau, die Sträucher wirken ausgefranst, die Gesichter wächsern, die Steine verwaschen. Eine Schönheit war aber auch der Vorgänger „Fallout 3“ nicht, auf des-sen Technik das Spiel aufbaut. Und so störend diese Makel auf den ersten Blick ins Auge fallen, so schnell sind sie wieder vergessen angesichts der unendlich erscheinenden Weite der Spielwelt, die sich vor dem Spieler ausbreitet – und der abstrusen Wesen, die sich dort tummeln: Riesenameisen und Geckos, religiöse Fanatiker, Wegelager und Supermutanten, die endlich wieder so aussehen wie die Supermutanten im Original-„Fallout“ und nicht wie die Fantasy-Monster aus „Fallout 3“. Der Spieler trifft auf Anhänger der „New California Republic“, die sich die Wiederherstellung der Demokratie auf die Fahnen geschrieben haben und mit den Hardlinern der „Caesar’s Legion“ um Territorien und Rohstoffe kämpfen. Ranger schlagen sich allein oder in versprengten Grüppchen durch die Wildnis, Roboter der Marke Securon eiern herrenlos durch die Wüste. Radioaktiv verstrahlte Ghouls sind auf der Suche nach Menschenfleisch oder haben sich zu einer religiösen Sekte zusammengeschlossen, die einen gemeinsamen Ausflug ins Jenseits geplant hat.
„New Vegas“ erinnert nicht nur optisch an den Vorgänger, es fühlt sich auch so an. Wer „Fallout 3“ gespielt hat, wird sich sofort zurechtfinden – und sich auch wieder entscheiden können, ob er in Egoperspektive spielt oder seine Figur sieht. Dennoch ist „New Vegas“ ein neues Spiel ohne inhaltliche Überschneidung, es wagt dabei aber den Spagat zwischen „Fallout 3“ und den Vorgängerspielen. Denn immer wieder deutet sich im Gespräch mit Chris Avellone an, dass er nicht alles an „Fallout 3“ gut findet. Er sagt das nicht explizit, denn schließlich ist „New Vegas“ eine Auftragsarbeit für Bethesda – und einen Auftraggeber kritisiert man nicht allzu sehr. „Die offene Welt und die Art und Weise, wie man sich darin verlieren und immer wieder neue Dinge entdecken kann, ist großartig“, lobt er den dritten Teil, gleichzeitig deutet er jedoch an, dass dessen Story stringenter hätte erzählt werden können, dass sie ihm zu wenig auf den Höhepunkt zuläuft. „In ‚New Vegas‘ machen wir das anders“, sagt er: „Die Spieler sollen jederzeit wissen, dass sie sich in einer großen Geschichte befinden und nicht nur in einer großen Welt.“ Vier grundverschiedene Wege wird es durch diese Welt geben, die an die Geschichte der ersten „Fallout“-Teile anknüpfen und die alle auf ihr eigenes Ende zulaufen – je nach eingeschlagenem Pfad, Gesinnung und Handlungen des Spielers. Dabei sollen die Konsequenzen seiner Aktionen gravierend sein. So gravierend, dass er, anders als bei „Fallout 3“, nach Ende des Games nicht mehr weiterspielen kann.
Davor aber gibt es viel zu entdecken: die besetzte Ortschaft Nipton etwa und das Gefängnis von Primm, in dem ehemalige Gefangene den Aufstand proben. Das von Ghouls und Mutanten umkämpfte Repcom-Testgelände oder die Stadt Novac, deren Wahrzeichen „Dinky der Dinosaurier“ das größte Thermometer der Welt in seinen Krallen hält. Und natürlich Las Vegas, der zweite Schauplatz des Spiels und dessen Namensgeber. Ein bunteres Spielfeld als die Glücksspielmetropole kann man sich als Designer kaum wünschen: „Allein die Kasinos haben uns viele Möglichkeiten geboten, kleine Welten zu gestalten, die mit dem Draußen nichts zu tun haben und deswegen nicht wie Fremdkörper wirken“, sagt Chris Avellone. „Es ist eine große Welt“, fügt er hinzu. Sie wird uns viel zu tun geben.
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