Die Ideenjäger
In Berliner Café St. Oberholz trafen sich kürzlich 30 Gamedesigner zu einem Game-Jam, um vier Tage lang im Dreistundentakt originelle Spiele zu programmieren. Wir waren vor Ort
„Larry, ich kann nicht mehr.“ Mit diesen Worten gibt Marian ihrem Lover den Laufpass. Nachdem sie das Restaurant verlassen hat, steht sie auf dem Bürgersteig. Vor ihr: eine unüberquerbar wirkende Asphalthölle. Rote, grüne, blaue Pixelautos rauschen heran, an ein Vorbeikommen ist kaum zu denken. Bevor sie ihrem Leben eine neue Richtung geben kann, endet es an einer Motorhaube, wieder und wieder. „Marian, nein!“ steht dann auf dem Monitor. Marian ist die Hauptfigur in „Serenade“, einem Game, in dem der Spieler sie zur gegenüberliegenden Straßenseite geleiten soll. Nach der zehnten Trennung und ihrem zehnten Tod dreht sie sich um und geht zum Panoramafenster des Restaurants. Dort sitzt immer noch Larry. „Durch das Glas hindurch berührte ich seine Hand. Wir lieben uns.“
Ein Lächeln huscht über das sommersprossige Gesicht von Pontus Hammarberg. Der 26-jährige Schwede ist stolz auf das Happy End seines 8-Bit-Dramas. Auch weil das Szenario so untypisch für Videospiele ist, die eher zu archaischen Konfliktlösungen neigen. Hammarberg ist Teilnehmer eines Game-Jams, eines Treffens von unabhängigen Spieleentwicklern in Berlin, die unorthodoxe Ansätze für Videospiele kultivieren wollen. Der erste Jam fand vor etwa zehn Jahren anlässlich der Game Developer’s Conference in Kalifornien statt.
Hammarberg greift nun selbst zur Maus, startet das Spiel neu und führt die Protagonistin schnurstracks über die Straße. „We never spoke again“ steht jetzt da in großen Lettern, „wir haben nie wieder miteinander geredet.“ „Man darf nicht zurückblicken“, sagt Hammarberg. Der Mitbegründer von Oxeye Games – ei-nem Indie-Studio aus Schweden – hat „Serenade“ gemeinsam mit dem Iren Stephen Lavelle geschaffen. Nur drei Stunden haben sie dazu gebraucht. Das ist ein Wimpernschlag im Vergleich zur herkömmlichen Entwicklungszeit eines Videospiels. Selbst Causual Games und nichtkommerzielle Titel benötigen meist einige Wochen Programmierzeit. Auf dem „Berlin Game Jam“ im Café St. Oberholz sind drei Stunden jedoch die Höchstdauer – von der Idee bis zur Fertigstellung.
„Kreativität unterliegt fast immer Einschränkungen, egal ob ‚Triple A‘ oder Indiegame“, sagt Hammarberg, „mal ist es Zeit, mal das Budget, meistens beides.“ „Triple A“, das sind Hochglanz-Shooter, edle Sportsimulationen und polierte Action-Adventures. Sie stehen für Mainstream und Millionen, große Er-wartungshaltungen, für Entertainment für die ganze Familie – und damit auch im Kontrast zum Indiegame-Selbstverständnis, das der Spielidee die höchste Priorität einräumt. „Wir versuchen mit den Einschränkungen, die es gibt, möglichst kreativ umzugehen“, sagt Hammarberg – „dann werden sie wie zu einem Fetisch.“ Oder zumindest zu einem Dogma wie auf dem Game-Jam, der aus einer losen Aneinanderreihung von dreistündigen Sitzungen besteht. In diesen sollen Spiele aus dem Nichts heraus entstehen. Die Themen der einzelnen Games stammen von den Teilnehmern. Alle können im Vorfeld Ideen auf Zettel schreiben, dann wird zugelost.
Im Hauptquartier der digitalen Boheme
Neben Hammarberg und Lavelle tummeln sich zwei Dutzend weitere Entwickler im Obergeschoss des Cafés am Rosenthaler Platz, das sich als Hauptquartier der digitalen Boheme Berlins versteht. Sie tragen T-Shirts mit Retro-Gaming-Motiven oder Aufdrucken wie „I’m confused… wait, maybe I am not!“, „Ich bin verwirrt … warte, vielleicht doch nicht!“. Nur sechs Entwickler stammen aus Deutschland, der Rest ist für den Game-Jam aus England, Skandinavien oder den Beneluxländern angereist und wohnt von Freitag bis Montag für 19 Euro die Nacht im Hostel auf der anderen Straßenseite. Frauen sind nicht dabei. „Die einzige Teilnehmerin hat auf den letzten Drücker abgesagt“, sagt Organisator Robert Zetzsche schulterzuckend. Aber auch so sind Plätze für das übliche Milchkaffeepublikum an diesem Wochenende rar. Die Apple-Hipster, Studenten und Freiberufler müssen sich, mitunter grummelnd, andere Plätze suchen. Die Holztische werden von mit Stickern versehenen Laptops besetzt gehalten, hinter denen Gesichter konzentriert auf einen kryptischen Befehl starren, auf einen Algorithmus, einen Bewegungsablauf oder eine Tonaufnahme.
Dabei sind längst nicht alle hier Programmierer. Grafiker, die spezielle Tafeln mitgebracht haben, auf denen sie pixelgenau zeichnen können, übertragen die Figuren aus ihren vollgekritzelten Skizzenbüchern in eine digitale Form. Ein britischer Schriftsteller, der wie viele andere Kunstschaffende nach Berlin gezogen ist und sich brennend für Videospiel-Storywriting interessiert, hat seine Tochter mitgebracht. Die fünfjährige Sophie turnt durch die Reihen der Nerds. Schon kurze Zeit später wird sie als Beta-Testerin in Beschlag genommen. Sie soll ein halb fertiges Jump’n’Run ausprobieren. Eine halbe Stunde starrt sie verzaubert auf den Bildschirm und hüpft durch die Levels, während sich neben ihr ein schwedischer Programmierer eifrig Notizen macht. „Der Game-Jam ist auch ein Versuchslabor, zu dem viele ihre eigenen Projekte mitgebracht haben“, sagt Robert Zetzsche und deutet auf einen langen Tisch in einer Ecke des Raums. Dort spitzt ein Teilnehmer die Lippen und pfeift in ein Mikro. „Er kalibriert ein Audio-Steuerungssystem“, sagt Zetzsche. Auf dem Monitor ist wenig mehr zu sehen als ein blauer und ein grüner Balken, wie in einer Wahlprognose. Ein dunkles Pfeifen erklingt, das immer heller wird. Daraufhin wandert eine Markierung vom unteren zum oberen Rand des Monitors.
Trotz aller Hingabe verdienen die wenigsten hier mit ihren Spielen Geld. „Einige verkaufen Software im Internet oder halten sich mit Spenden über Wasser“, sagt Organisator Zetsche. Für die meisten bleibt das Basteln von kopflas-tigen Puzzlegames oder Retro-Shootern aber nur ein Hobby.
Würde sich diese Szene Stars erlauben, Markus Persson, 31, wäre sicherlich einer davon. Bauchig, bärtig, mit schwarzem Hut und Dauergrinsen, ist er eine der auffälligsten Gestalten auf dem Game-Jam. Er ist mit der Umsetzung einer einzigen Idee – seiner „Goldidee“ – gerade sehr erfolgreich. Sein Spiel „Minecraft“ ist eine Weltensimulation. Deren Figuren, Bäume und Tiere bestehen aus großen und kleinen Quadraten. Ein ausgeklügeltes Crafting-System, mit dem man nahezu alles im Spiel handwerklich weiterverwerten kann, lockt Rollenspieler und Manager gleichermaßen. „Die Ausdehnung von ‚Minecraft‘ ist zufallsgeneriert und bis zu 80 Mal größer als die Erdoberfläche“, sagt Persson, „sie könnte theoretisch noch größer sein, aber der Terrain-Generator zickt dann rum.“ Stolz schwingt in seiner Stimme mit. Er hat „Minecraft“ ganz alleine programmiert – und nun zahlt sich sein Engagement aus: Rund 400000 Menschen haben das Game inzwischen heruntergeladen. 73000 Spieler haben „Minecraft“ sogar für zehn Euro erworben, derzeit kommen täglich bis zu 1500 Käufer dazu. Während Persson durch seine Welt führt, scharen sich immer mehr Leute um den Rechner. Sie alle haben „Minecraft“ auf ihren Festplatten. Das Spiel verkörpert erfolgreich den Anspruch der ganzen Szene – weil es einzig-artig ist. Spiele mit Zielen, Bossfights und Zeitlimits können ruhig andere programmieren. Und natürlich verzichtet auch „Minecraft“ auf einen Kopierschutz. Die Entwickler von In-diegames bauen kein Digitales Rechtemanagement oder ähnliche Schutzsysteme in ihre Spiele ein. Jede Hürde, die den großen Publishern Recht ist, ist für sie ein Sakrileg.
Epicureanism
Jan Willem Nijman ist mit seinen 19 Jahren – abgesehen von der kleinen Sophie – der Jüngste im Café St. Oberholz. Der Niederländer hat sein Gamedesign-Studium in Utrecht geschmissen, um mit einem Freund ein Start-up namens Vlambeer zu gründen. Nijman gingen die oberlehrerhaften Ratschläge seiner Lehrer auf den Geist – etwa dass 2D-Grafiken nicht mehr zeitgemäß seien. Jetzt gerade, es ist Samstag-nachmittag, zerbricht er sich seinen Kopf über die aktuelle Drei-Stunden-Aufgabe. Es ist warm geworden in dem Café. Nijman wischt sich den Schweiß von der Stirn. „Die ausgelosten Begriffe lauten ‚Flip Screen‘ und ‚Epicureanism‘“, sagt er amüsiert und presst Luft durch die Schneidezähne: „Epicureanism. Schon mal gehört? Ich bin nicht der einzige, der das erst einmal nachschlagen musste.“ Und das, obwohl er wie alle Anwesenden ein ausgezeichnetes Englisch spricht, die Amtssprache beim Game-Jam. „Es heißt Genusssucht,“ sagt Nijman, „und dazu ist mir nichts eingefallen. Deswegen habe ich das Wort auseinandergenommen.“ Er deutet auf zwei Männchen mit lilafarbenen Overalls und Rockabilly-Haartollen, die sich auf seinem Laptopbildschirm gegenüberstehen. „Laut Wikipedia ist ‚Uranism‘ eine Bezeichnung für Homosexualität“, sagt er, „und das, weil der Titan Uranus eine Tochter gezeugt hat, ohne dafür eine Frau zu schwängern. Also zeigt mein Spiel jetzt eine epische und zugleich schwule Auseinandersetzung.“ Er greift zur Tastatur, rennt mit dem linken schwulen Rockabilly zur rechten Ecke des Bildschirms und tritt den anderen. Nijman arbeitet an einem Beat’em-up mit ausschließlich schwulen Kämpfern.
Analoge Schulterklopfer
Nach etwas mehr als drei Stunden – man hat sich auf eine kleine Verlängerung geeinigt – versammeln sich alle Teilnehmer des Jams um einen Tisch, auf dem nun alle Ergebnisse der Gamedesign-Quickies vorgestellt werden sollen. Organisator Robert Zetzsche führt durch die Präsentation. Ein Jump’n’Run, ein Text-Rollenspiel und ein halbfertiger, namenloser 3D-Puzzler ernten ebenso höflichen Applaus wie ein sauber programmiertes Weitsprungspiel von Stephen Lavelle. Weitaus begeis-terter wird dann ein kleines Rollenspiel namens „Paradox“ aufgenommen, das den Spieler um das Herz einer Prinzessin kämpfen lässt – allerdings beginnend mit dem Ende, in der umgekehrten Reihenfolge der Geschehnisse, so wie im Film „Memento“. Jedesmal, wenn der Spieler in einem Bildabschnitt an der jeweiligen Aufgabenstellung scheitert – wenn er etwa die Prinzessin aus dem Bauch des Drachen nicht rettet, den Drachen nicht tötet, in einem Haufen Plunder das magische Schwert nicht findet oder nicht mit dem Zauberer spricht – begeht er ein Paradoxon. Der Bildschirm wird dann schwarz, und der Level beginnt von vorn. Schließlich sieht die Geschichte vor, dass er am Ende die Prinzessin zur Frau nimmt.
Als Nijman schließlich sein Beat’em-up vorstellt, johlt die Men-ge vergnügt auf. Nicht, weil die Nerdversammlung zur Homophobie neigen würde, sondern weil hier jemand gleich mehrfach um die Ecke gedacht hat. Der Niederländer freut sich sichtlich über den Zuspruch der Teilnehmer. „Es ist großartig, ein so di-rektes Feedback zu bekommen“, sagt er, „und noch großartiger ist es, dass man sich endlich mal gegenübersteht, so von Angesicht zu Angesicht.“ Die Szene der Indiegame-Designer ist überschaubar und lebt auf der ganzen Welt verstreut, sodass ein Aufeinandertreffen dieser seltenen Spezies immer etwas ganz Besonderes ist. Und so virtuell Hobby und soziales Miteinander sonst auch sein mögen – so ein klassischer, analoger Schulterklopfer ist mehr wert als tausend Smileys.
Während sich die gerade noch jubelnde Menge wieder in alle Winkel des Hauptstadt-Cafés zerstreut, sich hinter Laptops verkriecht oder eine Etage tiefer ein Frischgezapftes an der Bar bestellt, steht plötzlich ein älteres Ehepaar im Raum. Neugierig und ein bisschen verwirrt blickt es um sich. Was gewesen sei, will die Frau wissen, und wofür man sich so begeistere. „Game-Jam“, antwortet einer der Teilnehmer kurz angebunden, ohne damit eine wirkliche Erklärung zu liefern. Doch das Gesicht der Frau hellt sich auf. „Game-Jam“, wiederholt sie, hakt sich bei ihrem Mann ein, der sie fragend anschaut, und steigt die Treppe hinab ins Erdgeschoss.
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