Half-Life
Vor zwölf Jahren veröffentlichte die junge Firma Valve einen Egoshooter. Er erzählte eine Geschichte, die heute zu den Science-Fiction-Klassikern des zwanzigsten Jahrhunderts zählt – und an deren Ende alles infrage steht
Es beginnt mit dem Geräusch eines fahrenden Zuges, einer Aufblende auf das Innere des Abteils, dem kleinen Schriftzug „Half-Life“ in der Mitte des Bildschirms und einer angenehmen Frauenstimme aus einem Lautsprecher: „Guten Morgen und willkommen im Black-Mesa-Transitsystem. Dieser automatische Zug dient der Sicherheit und Bequemlichkeit des Personals dieser Forschungsanstalt. Es ist 8 Uhr 47. Die Temperatur an der Oberfläche beträgt 31 Grad. Wir erwarten heute eine Höchsttemperatur von bis zu 40 Grad.“
Als ich „Half-Life“ vor zwölf Jahren das erste Mal gespielt habe, war ich gefangen von dem ungewöhnlichen Auftakt. Ich fuhr minutenlang durch die Gegend, ohne dass ich etwas machen konnte, außer mich im Abteil umzusehen oder den riesigen unterirdischen Komplex durch die Fensterscheiben zu betrachten, in den ich einfuhr. Ich genoss die Vorfreude, gleich in einer so ausladenden Umgebung spielen zu können. Begleitet wurde dieses Gefühl von wachsender Spannung, denn unterschwellig wirkten Synthesizerakkorde auf mein Bewusstsein, die zwischen Musik und nachhallendem Fabrikgeräusch schwankten und offen ließen, ob ich mich jetzt gruseln oder absolut entspannt sein sollte.
Als „Half-Life“ im Oktober 1998 auf den Markt kam, hatte es die beste Grafik, die man je bei einem Game gesehen hatte – was allerdings nichts Besonderes war, weil das seit 1972 ein ästhetischer Grundsatz ist: Jedes neue Spiel sieht immer viel besser aus als alle Spiele zuvor – detailreicher, naturgetreuer, fotorealistischer. Was erstaunlich ist: „Half-Life“ braucht sich auch heute, zwölf Jahre und „Half-Life 2“, „Doom 3“, „Far Cry“, „Bio-shock“ und viele andere Spiele später, nicht zu verstecken. Während „Doom 2“ und „Quake“ mittlerweile wie eine Antiquität aussehen und älter wirken, als sie eigentlich sind, erscheint „Half-Life“ wie die erste Fassung moderner 3D-Grafik.
Mit der Erfahrung des ersten Spielens im Gepäck erkenne ich bei der erneuten Fahrt hinein in den Black-Mesa-Komplex Überraschendes: Es ist alles schon da, das ganze Spiel offenbart sich in diesen ersten fünf Minuten. Aus dem Lautsprecher kommen unmissverständliche Anweisungen:
„Bitte halten Sie Ihre Arme und Beine stets innerhalb des Zuges. Versuchen Sie nicht, die Türen des Zuges zu öffnen, bevor dieser an einer Haltestelle zum völligen Stillstand gekommen ist. Sollte ein Notfall eintreten, werden die Passagiere gebeten, sitzen zu bleiben und auf weitere Anweisungen zu warten. Falls ein Verlassen des Zuges unumgänglich sein sollte, bitte verletzte Personen zuerst evakuieren. Bitte halten Sie Abstand zu den Schienen, da diese unter Strom stehen. Begeben Sie sich zu einer Notfallstation, bis Hilfe eintrifft.“ Und dann nach einer längeren Pause: „Zur Erinnerung: Der Zehnkampf auf dem Black-Mesa-Gefahrenkurs beginnt heute abend um 19 Uhr auf Level 3.“
Genau so kommt es. Der Black-Mesa-Zehnkampf wird einen neuen Teilnehmer haben: mich. Ich werde mich auf festgelegten Bahnen in verschiedensten Disziplinen beweisen müssen – im Nahkampf, Schießen, Schwimmen, Geschicklichkeitssprung, Hindernislauf und interdimensionaler Teleportation. Nur eines muss ich nicht: mir Gedanken darüber machen, welchen Weg ich einschlagen möchte. Wie auf einer Schiene gleite ich durch den Komplex, vorbei an den Wundern außerirdischer Biologie, an menschlichem Technikversagen, korrupter Militärgewalt und undurchsichtiger Geheimorganisations-Tätigkeit. Ich lasse die eigenen Gliedmaßen besser auf dieser Schiene, sonst nimmt es ein schlechtes Ende, Türen sind nur dann offen, wenn es dort auch weitergeht, und im Falle des absoluten Notfalls folge ich besser den Anweisungen eines offenbar allwissenden Anzugträgers. Sonst könnte ich von einer albtraumhaften Horde von Außerirdischen überrollt werden.
Ist „Half-Life“ also ein Railshooter? Eigentlich schon, und damit ein Rückschritt gegenüber „Doom“ und „Quake“, die zwar auch eine bestimmte Fluchtlinie haben – die Tür aus dem Level heraus – dabei aber einen großen Strauß an möglichen Variationen anbieten, den Level zu durchlaufen. „Half-Life“ fühlt sich jedoch überhaupt nicht an wie ein Railshooter oder wie sein Vorläufer, der Sidescroller. Und das aus einem bestimmten Grund: wegen seines grandiosen Skriptings. Zunächst einmal technisch: Statt Level anzubieten und ihnen mit Zwischensequenzen eine erzählerische Dramaturgie zu verpassen, lädt das Spiel schnell die nächsten Räume, sobald ich bestimmte Punkte überschritten habe. Das macht es so geschmeidig, dass sich eine kontinuierliche Bewegung ergibt und ich das Gefühl habe, die Brücke, die eben noch passierbar schien, sei durch mein eigenes Handeln zerstört worden und wäre ansonsten intakt geblieben – oder es sei Zufall, dass ich mich gerade jetzt in einem Raum befinde, in den sich ausgerechnet in diesem Moment eine Horde Kopfkrabben hineinteleportiert. Das mag heute Standard sein, aber „Half-Life“ hat dieses Konzept 1998 zum ersten Mal in Perfektion präsentiert – und es funktioniert immer noch hervorragend.
Was „Half-Life“ aber zum Klassiker macht, also zu einem Spiel, das seinen ihm eigenen Wert besitzt und diesen auch im Laufe der Jahre immer wieder unter Beweis stellen kann, ist ein anderes Skripting, das mit dem technischen Skripting kongenial verbunden ist: „Half-Life“ ist ein verdammt gut geschriebenes Spiel. Das ist vor allem das Verdienst von Marc Laidlaw, einem Romanautor, der nach einigen Bucherfolgen beschlossen hatte, andere Wege einzuschlagen, seiner Fantasie Ausdruck zu verleihen. Er heuerte bei der neu gegründeten Firma Valve an, die eine Lizenz für die „Quake“-Engine erworben und sie komplett aufgebohrt hatte, um daraus die Grundlage für einen eigenen Shooter zu machen – der aber außer „Figur läuft durch Gänge und schießt mit Megawummen auf Megagegner“ keine Story für ihr geplantes Megaspiel einfiel. Marc Laidlaw dagegen hatte keine Ahnung von Gamephysik, wusste aber, was Menschen auf Dauer bei der Stange hält: Menschen wollen Szenen erleben, in denen sie über die Motivation anderer Menschen nachdenken können. Das kann bei der Arbeit sein, auf Partys, beim Fernsehen, im Kino, beim Lesen. Warum also nicht beim Egoshooter-Spielen? Laidlaw schaute sich an, was Valve bisher hinbekommen hatte und überarbeitete alles auf die Frage hin, was er dem Spieler noch erzählen könnte. Und schuf so zusammen mit dem Team eine der intensivsten Science-Fiction-Storys des zwanzigsten Jahrhunderts, eine Geschichte auf einer Ebene mit „Krieg der Welten“, „Schöne neue Welt“, „1984“, „2001“, „Bladerunner“ oder „Operation Mindcrime“.
Wie beinahe jeder andere Egoshooter erzählt auch „Half-Life“ die Geschichte, wie der Mensch versucht, mittels Technik die Natur zu beherrschen – sei es mit Raumstationen, mit Fabriken, mit Bergwerken, Schiffen, Städten –, wie diese Technik aber irgendwann in ihr unkontrollierbares Gegenteil kippt und zum feindlichen Dschungel wird, durch den sich der Mensch kämpfen muss, um zu überleben. Wie kein Egoshooter zuvor jedoch (und wie auch wenige danach) nimmt „Half-Life“ diese Geschichte ernst und versucht zu erklären, was das Ganze bedeutet: für den Einzelnen, der überleben will, für die Menschen, die es dazu haben kommen lassen, für die Technik beziehungsweise die sie stellvertretenden Aliens und für die Natur, die mit dem ganzen Schlamassel zurechtkommen muss.
Indem ich ihn spiele, lernte ich Gordon Freeman kennen, einen Physiker, der in einem geheimen Forschungszentrum in New Mexico das Energiepotenzial außerirdischer Kristalle erforscht. Schnell wird klar, dass er nur ein Werkzeug von Wissenschaftlern ist, die versuchen, den fremden Planeten Xen systematisch auszubeuten, ohne sich über die Konsequenzen ihres Handelns Gedanken zu machen. Nachdem es durch die Experimente zur Katastrophe kommt, beginne ich nach der Motivation der außerirdischen Lebensformen zu forschen.
Und die wird mir lange nicht klar. Erst spät sehe ich die Experimente, die mit den Bewohnern von Xen gemacht worden sind. Erst nach Stunden bekomme ich die Fabrik zu Gesicht, in der Soldaten gezüchtet werden, um sich gegen die Eindringlinge von der Erde zur Wehr zu setzen. Darüber hinaus lerne ich, dass sich die Menschen, von denen ich erhofft hatte, dass sie mich retten, ebenso fremd und unmenschlich verhalten wie die Außerirdischen: Die Soldaten, die nach Black Mesa geschickt worden sind, haben den Auftrag, alles zu vernichten, einschließlich der Menschen, die sich dort befinden. Plötzlich gibt es keine Seite mehr, auf der ich mich befinden könnte, alles wird fragwürdig. Sogar der vermeintliche Endkampf gegen das außerirdische Supergehirn Nihilanth, der das Einfallstor des Planeten kontrolliert. Nichts ist danach besser als vorher, alles entpuppt sich als große Inszenierung einer Geheimorganisation, deren Vertreter die ganze Zeit begutachtet hat, wie ich mich schlage, und die mich dazu zwingt, in ihre Dienste zu treten. Ein unbefriedigenderes Ende gab es nie in einem Egoshooter. Aber auch keines, das so lange nachwirkt.
In „Half-Life“ ist alles im perfekten Gleichgewicht, geht auseinander hervor und stützt sich wechselseitig. So sehr, dass ich beim zweiten Spielen vor diesem Gewebe sitze und erkennen muss, wie sicher dieses Spiel schon von Anfang an weiß, was im Einzelnen später passieren wird, wie es ständig Anspielungen macht und Wendungen der Geschichte vorbereitet. Was sagt die Lautsprecherstimme am Ende der Zugfahrt, bevor sich die Türen öffnen und ich heraustreten soll in das Spiel? „Arbeiten Sie sicher, arbeiten Sie klug. Ihre Zukunft hängt davon ab.“
„Half-Life“ gibt es in einer Fassung für Windows 2000/XP für knapp zehn Euro bei Valves Downloadplattform Steam. Die Playstation-2-Fassung des Games ist nur noch antiquarisch zu erwerben.
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