Wortspiele
Sie sind so alt wie Computerspiele selbst: In Textadventures tauchten Spieler wortreich in Fantasiewelten ab – bis das Genre plötzlich am Ende war. Nun hat eine neue Generation von Textern die interaktiven Geschichten wiederentdeckt und schreibt Abenteuer für heute
Feuerlicht tröpfelt durch die offene Tür in das Loft und sickert tief in die massiven, hölzernen Balken, die mit Pinienästen verziert über deinem Kopf hängen. Du liegst in der Wärme deines Bettes, abgeschirmt von der frostigen Winterluft durch Schichten von warmem Fell.
> Aufstehen
Vorsichtig, um Rume nicht zu wecken, schlüpfst du aus der Wärme der Felle in die kühle Luft und wirfst dir einen Mantel über.
Was sich liest wie der Auszug aus einem Roman, ist ein Computerspiel. Würde man das Gameplay von „Blue Lacuna“ auf einem Bildschirmfoto festhalten, sähe man alleine diesen Text. Der Spieler hingegen sieht viel mehr – doch das entsteht nur in seinem Kopf: die Grafik zum Spiel, die ganze Welt, in der er sich bewegt, alles. Denn „Blue Lacuna“ ist ein Textadventure. Es stellt das Spiel als Schrift dar, und auch der Spieler gibt nur Text ein. Statt einen Analogstick nach links zu drücken, schreibt er „Gehe links“, statt per Knopfdruck eine Tür zu öffnen, tippt er „öffne Tür“. So entsteht eine interaktive Geschichte, eine „interactive fiction“. „Blue Lacuna“ ist also ein radikaler Gegenentwurf zu grafisch imposanten Titeln wie „Heavy Rain“ oder „God Of War“: Es gibt keine Bilder vor, sondern lässt sie im Spieler entstehen. Es ist der neueste Vertreter eines Genres, das so alt ist wie Computerspiele selbst – und heute aktueller denn je.
„Grafik, Force-Feedback oder Surround-Sound sind nur die modernsten Werkzeuge, mit denen sich Geschichten erzählen lassen“, sagt Aaron Reed, „aber das kann Sprache seit Ewigkeiten – und ohne solche Hilfsmittel.“ Der Student hat mit seinem Titel 2009 bei den XYZZY-Awards für interaktive Geschichten abgeräumt, unter anderem den Hauptpreis für das beste Spiel. Seinen ersten Kontakt mit Textabenteuern hatte der heute 30-Jährige als Kind, am Apple Macintosh seines Großvaters.
Das Spiel, das darauf lief, hieß „Adventure“. Dessen Programmierer William Crowther hatte Anfang der siebziger Jahre mit seiner Frau Pat mehrere Expeditionen in Kentucky unternommen. Er sucht damals eine Verbindung zwischen dem Mammoth- und dem Flint-Ridge-Höhlensystem. Die unterirdischen Gewölbe beeindrucken Crowther zutiefst, und er beginnt, die Höhlen zu skizzieren. Als seine Frau sich später von ihm scheiden lässt, schreibt er eine textbasierte Erkundungssimulation für seine Töchter, die nun von ihm getrennt leben. Das Programm basiert auf seinen Karten des Höhlensystems, durch dessen Stollen seine Töchter fortan mit simplen Textbefehlen navigieren: Sie schreiben „Get Lamp“ („nimm Lampe“), um eine Lampe aufzuheben, oder „climb“ („klettere“), um höhere Ebenen in den Höhlen zu erreichen.
Crowther lädt „Adventure“ ins ARPANET hoch, einem Vorgänger des heutigen Internets. Immer mehr Menschen entdecken das Spiel, doch noch bleibt der große Erfolg aus. Bis der Student Don Wood das Programm entdeckt, Crowther kontaktiert und nach dessen Einverständnis Fantasy-Elemente wie Elfen und Trolle sowie ein Highscore-System hinzufügt. Hier taucht auch der Begriff „XYZZY“ erstmals auf. Im Spiel dient er Spielern dazu, sich von einem Ort zum anderen zu teleportieren – später wird danach der Preis für interaktive Geschichten benannt. „Adventure“ ist das erste Abenteuerspiel dieser Art. Es ist die Geburtsstunde eines Genres, das die Computerspielgeschichte prägen wird.
Zehn Jahre später erliegt auch Aaron Reed seiner Anziehungskraft. „Ich war als Kind ganz vernarrt in Bücher“, sagt er, „und plötzlich war ich selbst in einer Geschichte drin. Das war wundervoll.“ Das Original hätte er gar nicht spielen können, denn die Urversion von „Adventure“ läuft nur auf den Computersystemen der großen Universitäten – aber nur so lange, bis der Programmierer Scott Adams eine Version für Heimrechner erstellt. Auch Adams ist ein Fan. „Das Spiel war unglaublich“, erinnert sich der heute 57-Jährige: „Es gab mir das Gefühl, vollkommen frei Entscheidungen treffen zu können.“ Adams wird vom Fan zum Fantasiearbeiter: Nach seiner ersten virtuellen Höhlenbegehung programmiert er 1978 ein eigenes Spiel, „Adventureland“, das auf dem Heimcomputer Radioshack TRS-80 läuft und keinen Universitätsrechner mehr benötigt. Er gründet die Vertriebsfirma Adventure International: „Adventureland“ wird das erste Abenteuerspiel überhaupt, das für Heimcomputer verkauft wird.
Die Welt ist verrückt nach Textadventures, und auch in den kommenden Jahren wächst der Markt schnell. Die Entwickler von Infocom veröffent-lichen Klassiker wie die Reihe „Zork“ und arbeiten 1984 sogar mit dem Science-Fiction-Autor Douglas Adams an einer Spielumsetzung seines Romans „Per Anhalter durch die Galaxis“. Auch Scott Adams ist groß im Geschäft. Textabenteuer wie „Pirate Adventure“ und „Voodoo Castle“ verkaufen sich tausendfach. Noch. Denn bald betritt ein Unternehmen die Bühne, das den Wortspielen den Garaus machen wird: Sierra On-Line, -gegründet von dem Ehepaar Roberta und Ken Williams. Ihr „Softporn-Adventure“, die Inspirationsquelle für den späteren Bestseller „Leisure Suit Larry“, ist das einzige Adventure von Sierra, das nur aus Text besteht. Denn dann entwickeln die Eheleute „Mystery House“ – das erste Adventure mit grafischer Illustration. In „King’s Quest: Quest For The Crown“ fügen sie der Abenteuerwelt sogar animierte Figuren hinzu. Die Spieler sind -begeistert. Und Scott Adams’ Firma Adventure International hat dem -Siegeszug des bewegten Bilds nichts entgegenzusetzen. Als sein Studio 1985 Pleite geht, sind auch die Tage der Textadventures gezählt.
Auch für Aaron Reed war nach den ersten Abenteuern an Opas Rechner erst einmal Schluss mit den Wortspielen. Seine Jugend verbringt er mit Filmen, statt auf blinkende Cursor zu starren und sich dabei muffige Verliese vorzustellen. „Erst im Studium habe ich angefangen, Kurzgeschichten zu schreiben, und mich wieder an die alten Adventures erinnert“, sagt Reed. Und damit ist er nicht alleine. Das Internet verbreitet sich in dieser Zeit immer mehr, eine Gemeinschaft von Textabenteurern entsteht. „Das Netz hat Textadventures gerettet“, sagt Reed: „Mit einem Mal hatte eine neue Generation von Spielern die Möglichkeit, die Klassiker zu spielen, über sie zu diskutieren und eigene Abenteuer zu schreiben.“
Die Geschichten, die dabei entstehen, sind oft so ungewöhnlich, dass sie sich in Bildern kaum ausdrücken ließen: Das Spiel „Violet“ von Jeremy Frees zum Beispiel versetzt die Spieler in die Rolle eines Diplomanden, der seine Abschlussarbeit schreibt und dabei im Kopf die mahnende Stimme seiner Freundin hört. Chris Klimas „Blue Chairs“ entführt den Protagonisten mit einem Drogencocktail in halluzinogene Fantasien und lässt ihn ein Höhlensystem in den Tiefen eines Kühlschranks erkunden. Das Abenteuer„Lost Pig“ zersetzt sogar gezielt die Sprache des eigenen Genres, indem es den Spieler in die Rolle des Orks Grunk versetzt. Mit Sätzen wie: „Grunk Ork. Groß und grün. Trägt Hosen“ bezieht sich das Spiel direkt auf die formelhaften Befehlseingaben des Spielers.
2003 programmiert auch Aaron Reed seine erste interaktive Geschichte. Sie heißt „Gourmet“. Die Spieler verkörpern darin einen Küchenchef am Abend seiner Restauranteröffnung und stolpern von einer Slapstick-Situationen in die nächste. Es ist das erste Textabenteuer von vielen. Bildgewaltige Mainstream-Spiele zu programmieren, ist Aaron Reed in all den Jahren nie in den Sinn gekommen. „Wegen des technischen Wettrüstens sind große Entwickler immer wieder dazu gezwungen, neuere und schnellere Hardware zu meistern“, sagt er. „Ich hingegen kann mich auf meine Geschichte und die narrativen Mittel konzentrieren.“ Reed versucht die Mechanik der ersten Textadventures mit literarisch hochwertigen Geschichten zu kombinieren. Dass das genau so zeitaufwendig sein kann wie die Programmierung von „großen“ Spielen, zeigt die dreijährige Entwicklungszeit von „Blue Lacuna“. Die Herausforderung: Da die Handlungen des Spielers – ähnlich wie im Rollenspiel „Mass Effect“ – zu gänzlich unterschiedlichen Spielverläufen führen können, muss Reed alle möglichen Story-Abzweigungen und Untergeschichten stets im Blick behalten. „Vierdimensionales Erzählen“ nennt er das – und wenn er damit fertig ist, muss alles zusammenpassen: Keine Widersprüche dürfen die Bilder im Kopf der Spieler stören. „Wenn das gelingt“, sagt Pionier Scott Adams, „dann sind die individuellen Bilder, die sich jeder Spieler selbst macht, viel stärker als die von der Industrie vorgefertigten.“
Scott Adams’ schöpferische Tage sind mittlerweile vorbei. Statt selbst zu programmieren, spielt er heute mit seinen Enkeln auf der Xbox 360. Für Aaron Reed jedoch hat das Buchstabenabenteuer gerade erst begonnen. „Das Textadventure ist nicht mehr vom Untergang bedroht“, sagt er, „und sein ganzes Potenzial ist bei Weitem noch nicht ausgereizt.“ Parallel zu seinem nächsten Spiel „Sand Dancer“ wird er deswegen im Sommer ein Buch veröffentlichen, das Nachwuchsprogrammierern eine Schritt-für-Schritt-Anleitung zum Erstellen eigener „interactive fiction“ an die Hand geben soll. Damit will er das Genre Textadventure in die Zukunft führen. Denn Aaron Reed ist sich sicher: „Das geschriebene Wort gibt es schon -so lange, das wird niemals vergehen – und Textadventures sind doch das geschriebene Wort plus X.“
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