Max Payne 2: The Fall Of Max Payne

Max Payne 2: The Fall Of Max Payne

Sechs Jahre ist es her, da erzählte „Max Payne 2“ die Geschichte eines Polizisten auf der Flucht vor sich selbst – mit einer Eindringlichkeit und Tiefe, die bis heute in keinem Shooter mehr erreicht wurde Sie sind alle tot. Bleierne Stille kriecht durch die langen Korridore heran, über den Marmor der Treppenstufen, durch zertrümmerte Salons und Säle. Für einen Moment scheint es, als stünde die Zeit still. Nur das Dauerfeuer des Regens hämmert weiter gegen die Fenster des Anwesens wie ein Echo vergangener Stunden. Donner grollt durch die Sturmnacht, und irgendwo dahinter, ganz fern, das Heulen von Polizeisirenen, die aus der Stadt näher kommen. Suchend streichen Max Paynes Blicke über das Gesicht seiner Geliebten. Doch als er seinen Mund auf ihre Lippen presst, schmeckt er nur die Mündung einer Waffe, bereit, seinen Kopf abzureißen. Die Hoffnung stirbt zuletzt, sagt man. Für ihn jedoch liegt ihr Tod schon viele Jahre zurück. Wie bereits sein Vorgänger zwei Jahre zuvor schickt uns der Third-Person-Shooter „Max Payne 2“ Ende 2003 als gebrochener Polizist Max Payne hinaus in eine ewige Nacht, um einen verzweifelten Kampf gegen ein übermächtiges Verbrechersyndikat zu führen. Dabei geraten wir in Feuergefechte gegen Gruppen von Feinden, die in jedem anderen Shooter völlig aussichtslos wären. Doch die aus dem Film „Matrix“ entlehnte „Bullet-Time“, die bereits das erste Spiel geschmückt hatte, erlaubt es uns, die Zeit zu verlangsamen und, ohne getroffen zu werden, zwischen Pistolenkugeln umherzuhechten wie in einem John-Woo-Kampfballett. Im Kern ist „Max Payne 2“ also nur ein geradliniger Shooter – und doch hat er sich einen überragenden Platz in der Computerspielgeschichte erobert, unter anderem wegen seiner hervorragenden technischen Umsetzung: „Grafik, Animation und Besetzung waren dem ersten Teil weit überlegen“, erinnert sich Petri Järvilehto, der Lead Designer des Spiels. Tatsächlich lassen die Details der Gesichter, die Film-noir-Effekte während der Bullet-Time, die realistische Physikengine und die professionell gestalteten Comicsequenzen allerorten die Kinnladen herunterklappen. Und mehr als je zuvor fühlt sich das Spiel wie ein Spielfilm an: Die zahllosen Filmzitate und die kurzen, immer wieder schnell ins Spielgeschehen geschnittenen Cutscenes vermitteln den Eindruck, wir seien mitten in einen hochklassigen Gangsterfilm geschleudert worden. Dazu ermöglicht die Bullet-Time einen bislang nie da gewesenen spielerischen Flow: Wo wir bisher gezwungen waren, hinter Feuerschutz zu kauern oder taktische Rückzüge anzutreten, können wir nun stets im Fluss der Vorwärtsbewegung bleiben. In besonders intensiven Gefechten scheint die Zeit tatsächlich fast stillzustehen. Der größte Verdienst von „Max Payne 2“ ist noch viel grundlegender: Remedy hat es geschafft, eine überaus dichte Geschichte zu erzählen und ein vollkommen erwachsenes Spiel zu entwickeln. „Wir wollten uns von anderen Games abgrenzen, indem wir uns weigerten, unser Publikum zu unterschätzen“, sagt Järvilehto. So sollte sich bei der Story nicht einfach irgendein Designer selbst verwirklichen können – der Autor des Drehbuchs, Sami Järvi, ist studierter Anglist und Literaturwissenschaftler. Er verfasste ein Skript im Stil eines Hardboiled-Detektivromans, das vor Desillusionierung und Zynismus nur so strotzte. Es ist vier Mal so lang wie ein Filmdrehbuch – ein Berg von Material, aus dem andere Studios zehn Computerspiele gemacht hätten. Remedy verdichtet es auf neun eindringliche Stunden. Und bereits die erste deprimierende Minute macht unmissverständlich klar: Alles ist längst verloren für den gebrochenen Helden Payne. Verbittert und perspektivlos hat er sich in Alkoholismus und Isolation geflüchtet. Sein einziger verbleibender Freund ist ausgerechnet der russische Waffenhändler Vladimir Lem. Bei der Überprüfung eines Einbruchs entdeckt Payne schließlich Hinweise auf einen kriminellen Geheimbund – und das reißt ihn erst aus seiner Lethargie heraus und dann immer tiefer hinein in einen Strudel aus Lügen, Korruption und Schatten seiner eigenen Vergangenheit. Sein neuer Fall ist ein Fall ins Bodenlose. Mit jeder Wendung der Story stürzt er immer tiefer in seinen Schmerz hinab, und das auch körperlich: Payne fällt aus Fenstern explodierender Häuser, von Baugerüsten, in Fahrstuhlschächte und Gruben. Doch seine wahre Tragödie entfaltet sich erst in seiner hoffnungslosen Romanze mit einer Auftragskillerin, in die er sich stürzt und für die Payne alles verrät, woran er stets festgehalten hat – nur um am Ende selbst von all jenen verraten zu werden, an die er immer glaubte. „Max Payne 2“ erarbeitet sich seine Qualität auch durch die vielschichtigen Charaktere, die glaubhafte Gründe für ihr Handeln haben und nie nur „böse“ oder „gut“ sind. Da ist etwa der Gangster Lem, der mit Verbrechen um die Aufmerksamkeit seines väterlichen Mentors buhlt und dessen entwaffnender Humor zugleich seine gefährlichste Waffe ist. Oder die Musterpolizistin Winterson, die die Einsamkeit als alleinerziehende Mutter eines behinderten Kindes nicht mehr erträgt und dem Lebemann Lem hörig wird. Die Auftragskillerin Mona Sax fürchtet nichts mehr, als ein hilfloses Fräulein in Not zu sein, das auf seinen Prinzen wartet. Ihre Stimme wird brüchig, wenn Zuneigung ihre eiskalte Fassade zu sprengen droht. Und allen voran natürlich Payne, der seinen Schmerz nie heilt, sondern nur mit Schmerztabletten – englisch: „Painkiller“ – unterdrückt und damit Selbstmord auf Raten begeht. Payne, der sich so von seiner Umwelt isoliert hat, dass er versucht, seine Sorgen bei einer Telefonsex-Angestellten auszuschütten, bis sie angewidert auflegt. Payne, dessen Psyche in spielbaren Albträumen für uns begehbar wird. Der schwerste Schlag trifft ihn dabei interessanterweise nicht beim Verlust seiner Nächsten, sondern bei der Erkenntnis, selbst nur Spielball höherer Mächte zu sein. Mitten in einem Geisterbahn-Level, der selbst ein einziger selbstanalytischer Kommentar zum Design von Shootern ist, realisiert er: „Eine Geisterbahn ist eine lineare Abfolge von Schrecken. Dir bleibt keine Wahl. Das stimmt einen nachdenklich über freien Willen. Sind unsere Entscheidungen schon für uns getroffen worden wegen dem, was wir sind?“ Das ist die größte Tragik: Max Payne ist ein Avatar, der erkannt hat, nur ein Avatar zu sein. Die schier unglaubliche erzählerische Dichte der Geschichte ist zum einen sicherlich dem Schreibtalent Sami Järvis zu verdanken, zugleich aber auch den nur neun Stunden Spielzeit. „Wir haben uns bewusst dafür entschieden, das Spiel so kurz zu machen“, sagt Järvilehto. „So konnten alle Elemente immer wieder verfeinert und auf Hochglanz poliert werden.“ Das merkt man dem Spiel an. Noch beim zehnten Durchspielen fallen immer wieder scheinbar zufällige Details auf, die streng durchkomponierte Teile eines großen Puzzles sind: Kleinigkeiten wie ein Zertifikat an einer Wand, eine Kinderzeichnung oder ein quietschender Laufsteg entpuppen sich als Vorausdeutungen wichtiger Ereignisse. In kleinsten Gesten wird die Tragik von Figurenbeziehungen auf den Punkt gebracht. Und Sendungen, die auf Fernsehern im Spiel zu sehen sind, kommentieren bei genauerem Hinsehen wie ein Theaterchor das Geschehen: Mal als ernste Anmerkung zu Max Paynes moralischem Zwiespalt in Form einer Mystery-Serie, deren Held sein eigenes zum Serienmörder gewordenes Spiegelbild verfolgt. Mal parodierend durch den „Shaft“-Verschnitt „Dick Justice“, der mit breitem Ghettoslang die bedeutungsschwangeren Monologe Paynes durch den Kakao zieht. Zugleich quillt das Spiel förmlich über vor literarischen Anspielungen: auf amerikanische Krimihelden wie Philip Marlowe, deren Nihilismus jede finstere Metapher aus Paynes Munde durchtränkt. Auf John Miltons „Paradise Lost“, mit dem Lem sein Streben nach Macht begründet. Auf das Märchen „Dornröschen“, das immer wieder als Schlüsselmotiv in der komplizierten Beziehung zwischen Payne und Sax auftaucht. Und ganz besonders auf den biblischen Sündenfall, der den „Fall Of Max Payne“ wie ein roter Faden durchzieht – bis zu der von biblischer Symbolik durchzogenen Schlussszene, in der unser Held alles verliert und zugleich dadurch befreit wird. Und aus der wir mit einem Versprechen entlassen werden: „Max Paynes Reise durch die Nacht geht weiter.“ Ein Versprechen, das nie eingelöst wurde. Das Warten auf einen Nachfolger zieht sich hin wie in Bullet-Time, und das, obwohl das Spiel mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht wurde. Lediglich eine maue Hollywood-Verfilmung mit einem fehlbesetzten Mark Wahlberg wurde seitdem in die Kinos gebracht, die es erzählerisch mit den Spielen nicht aufnehmen konnte. Vielleicht hat das Warten aber bald ein Ende: 2010 soll „Max Payne 3“ erscheinen, das von Rockstar Games entwickelt wird – ohne Remedy. Dann sollen wir uns als muskelbepackter, glatzköpfiger Max Payne mit Bierbauch durch die Ghettos des taghellen São Paulo ballern. Angesichts des radikalen Settingwechsels und der nicht aus der Feder Järvis stammenden Geschichte erlauben wir uns, skeptisch zu sein. Aber wir werden sehen. Die Hoffnung, sagt man, stirbt schließlich zuletzt.

Maximaler Weltschmerz

Die bittersten Monologe des gebrochenen Helden Max Payne: „Deine Augen zu schließen zwingt dich, die Dunkelheit in dir zu betrachten. Ich wachte nachts auf und fürchtete, der Tag sei nur ein Traum gewesen, den ich bald vergessen würde.“ „Die Vergangenheit ist ein Puzzle, wie ein zerbrochener Spiegel. Während du ihn wieder zusammenfügst, hört dein Spiegelbild nicht auf, sich zu verschieben. Und du änderst dich mit ihm.“ „Einstein hatte recht. Zeit ist relativ zum Betrachter. Wenn du in den Lauf einer Pistole blickst, wird die Zeit langsamer. Dein ganzes Leben blitzt an dir vorüber, mit allem Leid, allen Narben. Streng dich an, und du kannst ein ganzes Leben in diesem Sekundenbruchteil leben.“ „Wir haben ‚Dornröschen‘ immer missverstanden. Der Prinz hat sie nicht geküsst, um sie zu wecken. Es war andersherum: Er küsste sie, um sich aus dem Albtraum aufzuwecken, der ihn dorthin gebracht hatte.“
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von Chris Rotllan / November 8th, 2009 / 2 Kommentare

2 Kommentare

  1. Nuck Chorris sagt:

    Zitat:
    „Wir haben ‚Dornröschen‘ immer missverstanden. Der Prinz hat sie nicht geküsst, um sie zu wecken. Es war andersherum: Er küsste sie, um sich aus dem Albtraum aufzuwecken, der ihn dorthin gebracht hatte.“

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    Ein unglaubliches Zitat zu einem unglaublichen Spiel.
    Hatte ganz vergessen, wie gut dieses Spiel war.
    Ich werde mir das Spiel jetzt bei Amazon bestellen.

    Danke für den Bericht.

  2. SoSchautsAus sagt:

    Dieses Spiel ist nicht weniger als ein Kunstwerk. Ich habe es erst vor knapp zwei Monaten wieder gespielt und bin jedes Mal aufs Neue begeistert. Diese Intensität, diese Emotionalität, diese Detailverliebtheit. Und dazu noch ein Gameplay, das die meisten oberflächlichen Spielspaß-Shooter locker in die Tasche steckt. Danke Remedy, für das vielleicht beste, aber auf jeden Fall tiefgründigste Action-Adventure aller Zeiten.