Morgen, Kinder, wird’s was geben
Unzählige Games-Experten haben bereits orakelt, wohin uns die Zukunft der Videospiele führen wird. Für die GEE haben professionelle Visionäre nach vorne geschaut: Sechs Science-Fiction-Autoren beschreiben, wie die Spiele von morgen aussehen werden
Symbionten
von Thorsten Küper
Der dünne Nieselregen hinterlässt Schlieren auf den Fenstern zum Garten. Ein leerer Garten, genauso leer wie das Haus, in dem ich stehe. Ich frage mich, ob die völlig identischen Häuser drum herum auch alle leer stehen. „Die fi-nanzieren erfolgreichen Spielern ein Haus wie das hier.“ Faber, mein Ausbilder, zwinkert mir über die Schulter zu. Er öff--net die Ausrüstungskoffer, die wir mit hereingebracht haben, und verteilt ihren Inhalt auf dem Boden. „Wenn sie gut sind.“ „Und die Spieler verlassen den Tank nie?“
„Wozu? Jede Minute ihrer virtuel-len Existenz ist Geld wert, wird live übertragen. Wer will schon das re--a--le Alter Ego hier im Tank sehen? Das Publikum will den Avatar. Den
Star.“ „Und dieser Spieler hier ist ein Star?“ Ich deute auf den Tank, der wie ein Sarkophag mitten im leeren Raum steht. Das ganze Haus besteht daraus. Leere Räume. Bis auf den Tank in der Mitte.
„Junge, das ist The Wreith, alias Wer-will-das-schon-wissen. Nie eine seiner Schlachten gesehen? Der hier ist ein Gott.“ Faber grinst, bindet seine Rastalocken, die sich wie Tentakel um sein aufgedunsenes Gesicht winden, zu einem kontrollierten Zopf zusammen und zieht sich dann eine Plastikhaube darüber. „Du auch, wir halten uns hier schön an die Vorschriften. Und überprüf noch mal die Tür. Ich will nicht, dass hier welche von diesen ‚Befreiern‘ reinstürmen und den Mann rausschleifen.“ „Befreier?“, frage ich und stülpe mir dabei die Plastikhaube über.
Faber nickt. „Sie holen die Spieler aus den Tanks. Nennen das Befreiung. Schwachsinn, sag ich. Ist doch alles besser als das hier.“ Er nickt raus in Richtung leerer Garten, leerer grauer Himmel. Dann beugt er sich zur Schaltkonsole am Tank. Das Glas wird transparent. Irgendwas schwimmt da drin. Etwas, das versucht, wie ein Mensch auszusehen. Nein, es ist ein Schwarm von Lebewesen, die eine Leiche fressen. So sieht es zumindest aus.
Faber grinst mich an. „Keine Sorge. Der lebt noch. Geht ihm blendend. Die Viecher, die an seiner Haut knabbern, sind Symbionten. Typ 2B34. Hier steht’s. Etabliert am 6. 3. 2038. Neuste Generation. Sorgen für optimale Gewebeabschälung. Ihr Speichel ist antiseptisch. Vorher hatten wir Probleme mit offenen Wunden auf der Haut der Spieler, weil sie sich manchmal am Tank reiben.“
„Und er spürt nichts?“
Faber starrt auf das bleiche Gesicht mit den eingefallenen Wangen und den daran haftenden Symbionten. Ich begreife, dass er den Spieler beneidet. „Der spielt da drin den Helden, während wir seine sterbliche Hülle warten.“ Er grinst bitter. „Heute lernst du die Standardprozedur kennen. Hardwarecheck. Nährlösungen nachfüllen. Wasserqualität testen, eventuell reinigen und zwei oder
drei Symbionten sezieren. Wir wollen nicht, dass sich da was ausbreitet. Schau mal nach, ob irgendwo tote Exemplare treiben. Erinnert mich an das Aquarium, das ich als Kind hatte.“
Er hat sie nicht hereinkommen hören. Ich schon. Die Tür steht offen. Sie tragen Kapuzen, die Gesichter hinter einfachen Atemschutzmasken verborgen. Befreier.
Fabers Blick ruckt hoch. „Scheiße, Mann, die Tür!!“
Ich lächle ihn an. „Und jetzt zeig uns, wie man den Tank öffnet.“
Thorsten Küper, geboren 1969 in Herne. Autor, Blogger und Bewohner virtueller Welten. Küper schreibt bevorzugt Storys über virtuelle Realität, Überwachung, Medien und Technologie für Magazine und Anthologien. In seinem Blog berichtet er täglich über Neuigkeiten im Bereich Wissenschaft, Medien und Web 2.0.
www.kueperpunk.de
Schnetzel den Quork!
von Uwe Post
Luka schleudert die Wespe. Sie schneidet die Luft in schrille Fetzen und schnarrt einen halben Zentimeter an der Halsschlagader des Quork vorbei. Der fährt herum, grunzt wie eine Handgranate in einer Bassdrum. Biomobs sind nicht zum Lachen geboren.
„‘mach Pizza aus dir“, krächzt Luka und schmeißt das Kettensägenschwert an. „BladeAlive, tödliche Qualität seit 2077“, quakt das Schwert. Am Rest der Voice-Spam nagt das Rasseln der Zähne: stählern, nimmersatt.
Der Quork springt. Krallt die Pranke in die Käsetheke, rotiert an der Klinge vorbei. Schwingt die Keule. Luka weicht aus, bekommt die Waffe fast ans Knie. Sein Schwert mäht einen Frau-Antje-Pappaufsteller nieder. Der Quork fängt an, mit Suppenkonserven zu werfen, aber er hat die Wespe vergessen. Das Biotool ist eine Kurve geflogen und schießt jetzt von der Seite auf den braunen, ledrigen Kopf des Quork zu.
„Bämm“, macht Luka, als die Wespe dem Quork links ins Ohr schießt und rechts wieder raus. Der Bio-mob bricht zusammen, reißt dabei einen Stapel Raviolidosen um.
Lukas Punktekonto steigt auf 23 Milliarden.
Jemand tippt ihm auf die Schulter. Er fährt herum und wischt sich eine Strähne aus den Augen. Eine Internet-Oma im karierten Fahrrock steht da, Arme verschränkt, Piercings klimpern: „Bisse ma fertich?“
Luka wirft sich in die Brust. „Das Böse ward vernichtet.“
Omas Augen blitzen. „Da kannich ja weiter einkaufen.“
Mit einer angedeuteten Verbeugung gibt Luka den Weg
zur Käsetheke frei.
„Früher ha’n wir nicht mit ’m Essen gespielt“, nölt die
Oma. „’s Vieh is brav im Stall gewartet, bisses geschlachtet wurd‘.“ „Massentierhaltung, ich kotz gleich“, schüttelt Luka
den Kopf und klappt das Schwert ein. „Zieh dir mal ein Ethik-Update. Gepriesen sei das Spiel.“
Er lässt sie stehen, schreitet durch den Gang mit den Bionudeln, biegt vor dem Ketchup links ab und gönnt sich eine Flasche Zisch Zitro aus dem Kühlschrank am Ausgang. Tritt hinaus ins Licht, auf den Parkplatz
vor dem Discounter; Flasche in der Linken, Handy in der Rechten.
Das fein gravierte Silber glänzt in der Sonne, die Augen der Miniatur-Drachenköpfe glühen rot, Verbindung steht.
„Lang lebe die Gilde“, spricht Luka die Grußformel.
„Ich lege auf“, kratzt Wiktors Stimme aus dem Drachenschlund. „Bin eh gleich bei dir.“
„Spätaufsteher“, grinst Luka und hängt das Schmuckstück an seinen Gürtel. Gerade fahren die Sammler von MacMonster vor, um das Quorkfleisch abzuholen. Dann sind Wiktor und sein Fahrrad da: Frisur wie Jesus, wenn der ein Haargummi gehabt hätte; T-Shirt schwarz und schweißgetränkt. Etwas fehlt, aber Luka braucht einen Moment, bis er drauf kommt: „Wo sind deine Hörner?“
„Gewinde rechts ist ausgeleiert.“ Wiktor tippt sich an die
Schläfe. „Und ein einzelnes Horn wirkt so asymmetrisch. Hunger?“ „Logo“, nickt Luka. „Macces hat Quorkpizza im Billig-Abo.“
„Fett“, macht Wiktor. „Und nachher Raid im Freibad.“
„Schnetzeln, Quorks und Co?“
„Nee“, grinst Wiktor. „Elfenpopos looten.“
Luka gibt ihm fünf, lacht: „Gepriesen sei das Spiel!“
Uwe Post, Jahrgang 1968, ist Diplom-Physiker, Journalist, Software-Entwickler, Kurzfilmer, Autor unzähliger Science-Fiction- und Fantasy-Geschichten und wohnhaft in Faustkeilwurfweite zum Neandertal. 2006 wurde er für die Story „edead.com“ mit dem William-Voltz-Award ausgezeichnet. Seine Erzählungen „Teufe 805“ und zuletzt „Noware“ (2009) wurden für den Deutschen Science-Fiction-Preis nominiert. Nach dem schrägen Fantasy-Roman „Zweiland“ und der Storysammlung „Zisch Zitro für alle!“ erschien in diesem Jahr der Biopunk-Roman „Symbiose“. Derzeit schraubt Post an seinem nächsten Roman, einer Weltraumdetektivkomödie für die ganze Familie.
www.post-sf.de
Handbuch aus dem Jahr 2020
von Claudia Kern
Vielen Dank, dass du dich für ein Spiel von Totally Awesome Games™ entschieden hast. Die folgenden Zeilen werden dich bei der Installation unterstützen.
Solltest du dich noch nicht bei Totally Awesome Games™ registriert haben, möchten wir dich bitten, dies auf www.totally-awesome-games.de nachzuholen. Nach erfolgter Registrierung kannst du das Spiel mit der mitgelieferten Totally Awesome Game Gun™ und dem Totally Awesome Game Chip™ installieren. Dazu wird der Chip seitlich in die Gun eingelegt und mit ihr unter die Haut geschossen. Nach erfolgreicher Installation sendet der Chip über das behördlich vorgeschriebene Sende-/Empfangsgerät alle notwendigen Informationen an das SafeGamingNet™ und aktualisiert dort euer Gamer-Profil.
ACHTUNG: Totally Awesome Games™ warnt ausdrücklich vor unsachgemäßer Handhabung der Gun und/oder des Chips. Näheres könnt ihr unter www.totally-awesome-games.de/hab-scheiße-gebaut/index.html nachlesen.
F: Ich bin bisher noch nicht polizeilich als Gamer registriert. Kann ich trotzdem Spiele von Totally Awesome Games™ installieren?
A: Das ist leider nicht möglich. Totally Awesome Games™ unterstützt das Safe-GamingNet™ der Bundesregierung, in dem das Spielverhalten von Gamern und ihr psychologisches Profil zu Zwecken der Prävention gespeichert und von geschultem Personal analysiert wird. Wie alle verantwortungsvollen Game-Entwickler bemühen auch wir uns
um eine sichere, gewaltfreie Gesellschaft. Im Übrigen müssen wir dich
darauf hinweisen, dass eine Regis-trierung im SafeGamingNet™ beim
Kauf eines PCs oder einer Konsole gesetzlich vorgeschrieben ist. Weitere Informationen erhältst du auf der Serviceseite von SafeGamingNet™:
www.safe-gaming----net.de/helft-mir---
nicht-amok----zu-laufen/index.html
F: Nach der Installation des Totally Awesome Game Chip™ blute ich wie ein Schwein™. Kann ich Totally Awesome Games™ nach meiner Rückkehr aus der Notaufnahme verklagen?
A: Das ist nicht möglich. Umfangreiche Untersuchungen haben ergeben, dass der Einsatz des Totally Awesome Game Chip™ bei 83,4 Prozent aller Gamer
ohne Nebenwirkungen verläuft. Auf-tretende Probleme konnten ausnahmslos unsachgemäßer Handhabung, zum Beispiel Veränderungen der Daten (sogenannten „Hacks“) zugeschrieben werden. In diesen Fällen kann eine
Explosion des Chips zum Schutz unseres geistigen Eigentums nicht ausgeschlossen werden.
F: Ich bin als Gamer registriert und habe den Totally Awesome Game Chip™ erfolgreich unter meine Haut geschossen. Wie komme
ich jetzt an mein Spiel?
A: Der Download deines Spiels beginnt automatisch, sobald du deinen
PC oder deine Spielekonsole ein-schaltest. Bitte beachte, dass es mehrere Minuten dauern kann, bis das Safe-GamingNet™ deine psychologische Eignung für das erworbene Spiel
überprüft hat. Nach erfolgter Frei--schal----tung steht deinem Spielvergnügen nichts mehr im Weg.
F: Was ist, wenn ich weitere Fragen oder Probleme habe?
A: Unser Service-Telefon beantwortet gern Fragen aller Art unter
01805-TOTALLY-AWESOME-TM
(9,99 Euro die Minute).
Claudia Kern, geb. 1967, schreibt Fantasy-, Science-Fiction- und Horrorgeschichten sowie Storys für Computerspiele und Kolumnen. Zudem übersetzt sie Romane und Sachbücher aus dem Englischen und arbeitet an Lokalisierungen von deutsch- und englischsprachigen Computerspielen. Mindestens zwei Mal im Jahr übernimmt sie auf der Fedcon und der Ringcon als Teil des „VIP Liaison Teams“ organisatorische Aufgaben.
www.claudia-kern.com
Highscore
von Frank Hebben
Sie tragen mich in einer Sänfte durch die Elektrische Stadt, entlang der alten Arcade aus Glas und Acryl, in denen einst die Spiele begannen; das Herz meiner Welt, jetzt vom Schatten größerer Spielepaläste verschluckt, wo es stillsteht, versunken in alten Tagen. Nur noch wenige Gamer, die hier hergelockt werden, vielleicht von Nostalgie getrieben und diesem Hauch von Ehrfurcht, den sie auch mir entgegenbringen, wenn sie den Kopf etwas senken, wegschauen, sobald ich ihnen Aufmerksamkeit schenke – dieser zehnten Generation von Spielern, die so anders ist als wir und doch so gleich, so besessen, so stolz auf ihren Highscore, der in azurblauen Ziffern auf ihrer Stirn prangt. Ein Mädchen ohne Augen, fast noch ein Kind; ein Junge mit einem Kristallschädel, in dem sich Neurovipern schlängeln.
Halbwach gleite ich an den Monumenten vorbei, wo die Pioniere der neuen Zeit in Epoxidharz gegossen stehen – viele meiner Gegner, die ich überlebt habe, trotz allem. Noch erinnere ich mich an den ersten gro-ßen Tag, als ich zum Zweikampf die Arcade betrat, von der flirrenden Statik berauscht: das grelle Licht, das Tosen der Menge, bis ich meine insektoide Hand mit den Spinnengelenken fest an mein Ohr presste, um vom Jubel nicht bewusstlos zu werden. Vorne mein Podest und das Podest meines Gegners: Auge in Auge, die Zähne verbissen, während wir den Leib mit Injektionen auf Hochtouren bringen, die Netzhaut als Bildschirm, das Gehirn als Prozessor, wir selbst sind lebende Konsolen.
Möge der Beste gewinnen!
Die Spielfinger mit Geckohaut überzogen. Polysynapsen für schnellste Reflexe. Hirnareale für Kugelraumsicht oder multidimensionales Sehen – als die ersten Modi-fikationen unter dem Tisch verkauft wurden, militärische Restposten aus China und Südkorea, war ich einer der ersten Gamer, die zögernd den Preis bezahlten: Austausch einer ganzen Hirnregion, um sie implantieren zu können, und ging etwas schief, entweder blind, taub, gelähmt oder ohne Langzeitgedächtnis leben.
Ich hatte keine Wahl, wenn ich gewinnen und nicht bloß
mitspielen wollte.
Später Probleme mit der Gewebeabstoßung, die ich nur mit Medikamenten bekämpfen konnte, teure Präparate, meist illegal und voller Nebenwirkungen, das Zittern, die Blutungen. Doch alles, was für mich zählte, war der neue Highscore, steil aufzusteigen in der Liga, bis zum zweiten Platz; bevor ich meinen Meister fand.
Eine Menge formiert sich, als die Träger mich die Stufen des Kolosseums hochheben. Applaus brandet auf, erst zögernd, verhalten, dann schallend; und diesmal starren die Gamer mich offen an wie ein seltenes Tier, das zur Schau gestellt wird. Inzwischen stehen die goldenen Pforten offen, und ich werde in die Arena hineingetragen. Abendlicht flutet das gewaltige Kuppeldach, ich fühle Wärme auf meiner spärlichen Haut.
Ein letzter Kampf, eine letzte Chance, meinem Meister den ersten Platz abzuringen – denn wir beide liegen im Sterben. Während ich meine Injektionen erhalte, kann ich einen flüchtigen Blick auf unser Spiegelbild werfen, auf unsere alten, zerfallenen Körper, die nicht mehr als Zellhaufen sind, von silbernen Nervenfäden durchkreuzt.
Er hat noch sein schlaffes Akustikgewebe am Hinterkopf; einen Spinnenfinger, der steif geworden ist und schwarz. Mein Highscore ist auf die Schulter gerutscht, 50 Punkte, die ich noch brauche, so wenig und doch … ich werde ihn schlagen. In einem Spiel, das so viel älter ist als wir selbst. Es beginnt!
Mit Gedankenkraft ziehe ich den Balken hoch, um den kleinen Ball zurück zum
Gegner zu schleudern:
Pong.
Eins zu null.
Frank Hebben, geboren 1975 in Neuss, ist Werbetexter und Magister der Germanistik/Philosophie. Er hat einige Jahre in Düsseldorf studiert und gearbeitet, seit Kurzem lebt er in Bielefeld. Hebben veröffentlicht Cyberpunk-Kurzgeschichten in Magazinen wie c’t, Exodus, Space View, phantastisch!, Alien Contact und verschiedenen Anthologien. Beim SF-Magazin Nova fungiert Frank Hebben außerdem als Mitherausgeber. Seine erste Story-Sammlung „Prothesengötter“ veröffentlichte 2008 der Wurdack-Verlag. www.prothesengoetter.de,
www.neonrauschen.de
No-Game
von Karla Schmidt
Throw a rock against the road and it breaks into pieces.
(Bowie, „It’s No Game“)
Kei eilt mit kleinen Schritten, den Einkauf im Arm, die klebrige Straße entlang. Der Kimono spannt über dem Bauch, die Haut wund von der verschwitzten Kunstseide. Im Grunde hätte sie nicht ohne es gehen dürfen, sie verletzt die Regeln. Kei zieht den Kimono hoch, um weiter ausschreiten zu können. Ein Mann vor einer FakeSushi-Bude glotzt sie an, wahrscheinlich gibt sie in seinem Szenario™ eine anzügliche Vorstellung ab. Dari hat gesagt, sie könne Einfluss darauf nehmen, doch erst seit sie sein Kind trägt, ist es ihr nicht mehr egal, wie die Leute sie sehen. Wenn sie nur wüsste, wie sie Dari finden kann. Kein Kontakt mehr zu ihm, seit er No-G verlassen hat.
Als Kei ihre Baracke erreicht, aktiviert sie mit einem Blinzeln ihr Szenario™. In der Baracke bleibt es still, kein Weinen, kein wütendes Geschrei. Heiße, faulige Luft schlägt ihr entgegen.
Kei haut auf den Lichtschalter. Wieder kein Strom. Sie lässt den Einkauf auf den Tisch fallen, Gestank quillt ihr entgegen, als sie den Kühlschrank aufreißt, vergoren, prickelnd, gammelig. Sie hat ja schon eingekauft, die Fächer sind bis oben hin voll. Vergesslichkeit ist eine bekannte Nebenwirkung des Szenario™. Kei lässt sich auf den Küchenstuhl fallen, zieht ein Messer aus der Schublade und wiegt es in der Hand. Ihren siebten Geburtstag würde sie nie vergessen, jeder wird in diesem Alter eingeführt. Einen Shot No-G-Nanos in den Nacken, einen in die Schläfe und einen in die Leiste, drei virale Herde, die sie zu einem Teil von No-G gemacht haben.
Dari hat gesagt, dass man diese Knotenpunkte wegschneiden muss, wenn man rauswill, und das ist gefährlich. Es blutet stark. Doch wenn sie es richtig macht … wie würde das sein, ohne die Gesetze, den Schutz und die Führung von No-G?
Irgendetwas hatte sie tun wollen, sie hat es eilig gehabt. Warum? Kei legt sich grübelnd aufs Bett, die Zeit dehnt sich und zieht sich im Rhythmus ihres Atems zusammen. Plötzlich schreckt sie hoch. Sie hätte es füttern müssen.
Die Wiege steht vor dem verhangenen Fenster. Sie ist eine Winzigkeit zu hell, sie scheint von einer feinen Linie aus Licht und Schatten umgeben, als hätte man sie ausgeschnitten und aufgeklebt. Typisch für Szenario™-Elemente. Der Gestank ist unerträglich. Aber hatte sie denn nicht eben sauber gemacht?
Es bewegt sich in der Wiege. Es ist ein Modell, von No-G erschaffen. Kei muss beweisen, dass sie dafür sorgen kann. Weil der Vater weg ist, weil sie elf Stunden täglich giftigen Elektroschrott sortiert, um zu überleben. Weil nur jede fünfte Frau Anrecht auf ein echtes Kind hat. Die Bewegungen irritieren Kei, sie sind zu gleichmäßig. Sie steht auf und beugt sich über die Wiege. Über den aufgedunsenen Leib des Szenario™-Babys winden sich Maden wie knochenlose Finger.
Game over. Kei muss No-G unbedingt verlassen, so wie Dari.
Sonst werden sie ihr das Kind wegnehmen.
Der Mann von der Genehmigungsstelle kommt am nächsten Morgen, um das Kind für eine Frau auf seiner Warteliste zu entnehmen. Er findet Kei quer über dem Bett liegend, ein Messer in der
halb geöffneten Hand. Das Bett ist rot und feucht. Der Mann blinzelt sich in sein Szenario™, um dem Gestank in der Baracke zu entgehen.
Karla Schmidt hat unter anderem als Inspizientin und Dramaturgin bei Operninszenierungen, als Drehbuchautorin, als Lektorin und als Belletristikdozentin ihr Geld verdient. Sie hat Drehbücher für Kinder-PC-Spiele geschrieben und an der Berliner Games Academy Storytelling unterrichtet. 2009 erhielt sie den Deutschen Science-Fiction-Preis für die beste Kurzgeschichte. Im Frühjahr 2010 erscheint bei Piper ihr Psychothriller „Das Kind auf der Treppe“.
www.literaturstudio.com
Ein verdammt harter Job
von Bernd Frenz
Es würde schmerzhaft werden, das war ihm sofort klar, als er den kahlen Lagerraum betrat. Antek hob die Automatik, während er den Blick über die anrückende Meute gleiten ließ. Die mit Eisenrohren und schweren Ketten bewaffneten Kerle fächerten gerade weit genug auseinander, um die Sicht auf eine Frau freizugeben, die hinter ihnen gefesselt auf einem altersschwachen Stuhl saß. Sein Daumen drückte bereits gegen den Sicherungshebel, als etwas Schweres auf seine rechte Schulter krachte. Flammender Schmerz brannte durch seine Nervenbahnen. Plötzlich wog die Waffe zentnerschwer. Klappernd prallte sie auf den nackten Betonboden.
Du Idiot!, schimpfte er mit sich selbst, während er unter dem nächsten Schlag hinwegtauchte. Der alte Trick mit dem Kerl, der hinter der Tür lauert!
Der rostige Schraubenschlüssel sauste erneut heran, doch diesmal war Antek schneller. Einen wütenden Schrei auf den Lippen, hämmerte er seine Stirn in das Dutzendgesicht. Danach stieß er den linken Handballen in die Höhe, um das zersplitterte Nasenbein in das Gehirn seines Gegners zu rammen. Röchelnd brach der Schraubenschlüsselschwinger zusammen und blieb reglos liegen.
Glück gehabt! Antek atmete auf.
Er bewegte sich in einer unzensierten Version!
Sich danach so über den Boden zu rollen, dass er die verlorene Waffe in einer flüssigen Bewegung aufnehmen und auf die übrige Meute abfeuern konnte, stellte für einen alten Profi wie ihn kein großes Problem dar. Vier gezielte Kopfschüsse später stand er vor der hilflosen Geisel.
Nachdem er ihren Knebel gelöst hatte, reagierte sie so, wie es sich für ein anständiges Belohnungssystem gehörte. „Mein starker Held!“, hauchte sie. „Wie kann ich mich nur erkenntlich zeigen?“
„Och, ich hätte da schon eine Idee“, antwortete Antek.
Doch im gleichen Moment, da er an seiner Hose zu nesteln begann, spürte er einen unangenehmen Druck auf den Hoden, der sich schlagartig verstärkte. Antek schrie auf, denn gegen den Schmerz, den er nun fühlte, nahmen sich die zuvor erhaltenen Schläge wie zarte Streicheleinheiten aus.
Die Geisel sah ihn ratlos an.
Keuchend langte er nach seinem Kopf, doch statt seines Helms spürte er nur glatt rasierte Wangen.
„Abbruch!“, heulte er laut auf. „Abbruch!“
Zum Glück hatte das Überwachungs--personal längst erfasst, dass etwas nicht stimmte. Antek hörte die Verschlüsse aufschnappen. Als ihm der Helm vom
Kopf gerissen wurde, flog die Lagerhalle davon. Dahinter wurde die Sicht auf ein Labor frei, in dem Frauen und Männer
in weißen Kitteln vor blinkenden Apparaturen umherliefen.
„Alles in Ordnung mit Ihnen?“ Der Projekt-leiter stellte eine besorgte Miene zur
Schau. Antek versuchte sich zu erheben, doch der schwere Ganzkörperanzug mit den Druckluftkammern, den er trug,
hielt ihn in seinem Schalensitz. Mit Tränen in den Augen zeigte er an sich herunter, zu der schmerzenden Stelle.
Irgendwo im Hintergrund kicherten zwei Frauen.
Der Projektleiter warf ihnen böse Blicke zu, bevor er sich wieder an Antek wandte. „Eine unvorhergesehene Kontraktion im Schambereich!“, erklärte er mit verständnisvollem Nicken. „Keine Sorge, das war nur ein kleiner Bug, der sich rasch ausmerzen lässt.“
Antek zuckte ergeben mit den Schultern. Beta-Tester im Jahre 2109 zu sein war nun mal ein verdammt harter Job.
Ende
Und die Moral von der Geschicht?
Die Technik wird sich in den nächsten hundert Jahren verändern, aber die Inhalte nicht.
Bernd Frenz, Jahrgang 1964, ist freier Journalist und Romanautor. Er schrieb Kurzgeschichten für Musik- und Rollenspielmagazine, gehörte zu den Hauptautoren der SF-/Fantasy-Serie „Maddrax“, schrieb für den „Perry Rhodan“-Kosmos und verfasste mehrere Romane zu dem Computerspielhit „Stalker – Shadow of Chernobyl“. Seit 2006 werden von ihm getextete Comics regelmäßig in dem renommierten US-Fantasy-Magazin „Heavy Metal“ veröffentlicht. Ab Dezember 2009 erscheint mit der „Blutorks“-Trilogie im Blanvalet-Verlag sein bisher größtes Fantasy-Epos.
www.berndfrenz.de
Tags:
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Literatur,
Science-Fiction