GTA: Chinatown Wars
Der Sitznachbar im Regionalexpress: "Na, worüber freuen sie sich denn so?" Die Antwort: "Ich habe gerade eben ein paar Päckchen Koks mit Rekord-Gewinnspanne verkauft." Genau: Ab sofort können Nintendo-DS-Besitzer auch unterwegs ein Doppelleben in Liberty City führen
Meine Frau pflegt zu sagen: "Würde dieser Planet nur von Männern bewohnt, wäre er eine einzige große Wüste, durch die Jeeps mit aufmontierten Maschinengewehren fahren." Sie könnte auch sagen: "Würde dieser Planet nur von Männern bewohnt, wäre er eine einzige große Stadt, durch die Männer mit geklauten Autos cruisen, in dunklen Ecken Drogen verkaufen, an der Tankstelle Molotowcocktails mischen und Jeeps in gegnerische Viertel lenken, von deren Ladefläche der Boss höchstpersönlich untreu gewordene Dealer mit einem Maschinengewehr von der Straße fegt." Dieser Boss hieße in besagter Szene Zhou Ming und wäre einer der drei Anwärter auf die Nachfolge des Triadenführers Hsin Jaoming, die wir in "Chinatown Wars" als Neuling Huang Lee unterstützen können. Wobei es natürlich unfein ist, Aufträge vom cleveren Zhou anzunehmen oder gar vom debilen und arroganten Chan Jaoming, der sich als Sohn des scheidenden Paten trotz seiner Inkompetenz so sicher als Nachfolger gesetzt fühlt wie Mario Gomez als Stürmer in der Nationalmannschaft. Eigentlich sollte unsere Loyalität unserem Onkel gehören: Wu "Kenny" Lee. Denn der hat uns schließlich nach dem Tod unseres Vaters und somit seines Bruders aus China nach Liberty City geholt, um ihm aus der Erbmasse ein legendäres Schwert zu überbringen, durch das sich Kenny an die Spitze der Triaden hochkaufen will. Aber was heißt in der Welt von "Grand Theft Auto" schon "eigentlich", wenn das Schwert direkt nach unserer Ankunft gestohlen wird? Was heißt schon "eigentlich", wenn einen das Gameplay nicht nur zum Hurendienst für die anderen potenziellen Bosse verleitet, sondern zudem dazu, Tag um Tag nicht etwa die 30-stündige Storyline zu spielen, sondern ausschließlich zu dealen, was der Koffer hergibt? Das schlichte Ein- und Verkaufssystem ist eine der Stärken dieser "Chinatown Wars", die auf dem kleinen Nintendo DS eine riesige Welt erschaffen: Sechs Drogen-sorten und verschiedene Handels- und Einfluss-regionen in der Stadt motivieren den Spieler immerfort, das immer noch bessere Schnäppchen machen zu wollen, um es gleich darauf wieder an immer noch dümmere Höchstbietende zu verkaufen. "Chinatown Wars" wird so - wie seine großen Konsolenbrüder - zu einer kriminellen Allegorie auf unser reales, legales Leben: Ständig bimmelt es im Posteingang unseres virtuellen PDAs, Dealer bieten uns zeitlich beschränkte Ein- und Verkaufstreffen an, Zhou, Kenny und Chan erbitten unsere Hilfe bei neuen Missionen - wir wissen wie in unserem Alltag kaum, welchen Termin wir als erstes wahrnehmen sollen. Und mit alldem streben wir nur nach einem Mehr an Macht, Einfluss und Geld. Was also kein Liedermacher oder Enthüllungsjournalist mehr anklagen kann, ohne vielen Leuten ein Gähnen zu entlocken, stellt "Chinatown Wars" in all seiner Drastik aus: Weil wir Stunden um Stunden mit nichts anderem verbringen, als aus niederen Beweggründen zu morden, zu stehlen und zu dealen, erzeugt das Spiel mit der Zeit ein Unbehagen, das heut--zu-tage kaum eine offene Gesellschaftskritik hervorzurufen vermag.
Die satirische Färbung des Spiels zeigt sich vor allem in den Cutscene-Dialogen und in der absurden Komik, die sich ganz von selbst aus dem Gameplay ergibt. Die Cutscenes sind Comic-Standbilder mit meisterlich schroffer Figurenzeichnung, begleitet von staubtrockenen, heillos übertriebenen Pulp-Dialogen, gegen die das "Hamburger Royal mit Käse"-Gespräch zwischen Travolta und Jackson oder die Debatten über Ketchup und Fritten in "Boyz N The Hood" geradezu dokumentarisch erscheinen. Die in der Vorgeschichte betonte Charakterisierung des 25-jährigen Protagonisten Huang als verwöhntes Papasöhnchen wird dabei ad absurdum geführt, denn unser Charakter ist schlagfertiger und cooler, als es die Einführung vermuten lässt. Das Gameplay wiederum wird automatisch zur Satire, wenn man sich zum Beispiel als Krankenwagenfahrer verdingt und nur, um mit dem aktuellen Patienten rechtzeitig zur Notaufnahme zu gelangen, während der Raserei zehn andere Passanten platt macht. Dass man für eine "erfolgreiche" Fahrt dabei lediglich zehn Dollar bekommt, als Dealer mit ungleich geringerem Aufwand aber das Hundertfache verdienen kann, setzt dem Ganzen die Krone auf. Überhaupt: Ob als Sanitäter, Taxifahrer oder Pizzalieferant in schlecht bezahlten Jederzeit-Missionen, in gemütlicher Reise auf dem Weg zum Dealer oder im hektischen Rahmen einer Story-Mission: Autofahren nimmt auch im kleinen "GTA" einen Großteil unserer Zeit ein. Die isometrische Vogelperspektive mit dynamischer Schwenkkamera bietet dabei ein ganz anderes Fahrerlebnis als die 3D-Vorbilder. An diesem Punkt braucht "Chinatown Wars" sogar eine gewisse Zeit, um einen gefangen zu nehmen, denn das Fahren im Taschen-Liberty-City ist zunächst sehr gewöhnungsbedürftig: In der Draufsicht hat man nie genügend der vor einem liegenden Strecke im Blick, unser Auge muss also immer wieder zwischen der Action auf dem oberen und dem Navigator auf dem unteren Bildschirm hin und her wechseln da das GPS nur den schnellsten legalen Weg zum Ziel anzeigt und zig Abkürzungen verschweigt, wird das Fahren gerade unter Zeitdruck äußerst schwierig, sodass man bei aller Übung neben den fünf Radiostationen mit Instrumentalmusik vor allem ein Geräusch ständig hört: das "Klonk!" umgemähter Straßenlaternen. Zugegeben, die automatische Spurfindung der Wagen erleichtert das Leben - wie so vieles in dem Spiel: Es bietet uns die Möglichkeit, überall in der Stadt Unterschlupfe zu erwerben, in denen wir Drogen bunkern, uns vor der Polizei verbergen, speichern und einmal geschaffte Missionen zwecks besserer Zeiten erneut starten können. Die Zielautomatik hilft bei Schießereien. Ein Pfiff ins Mikro ruft ein Taxi herbei. Der Lieferservice Ammunation liefert in Windes-eile neue Waffen vor die Haustür, an der Tankstelle gemixte Mollis schalten die in der Stadt versteckten Überwachungskameras aus. "Chinatown Wars" wäre natürlich kein "GTA", wenn wir uns nicht mit so vielem ablenken könnten, falls wir in einer Story-Mission nicht weiterkommen: Passanten bieten Spezialaufträge an, im Zweispieler-Modus können mit zwei Konsolen Rennen gefahren werden, wir können Häuser verteidigen und Jagd auf einen Drogen-Van machen, Rubbellose rubbeln oder Mülltonnen auf Drogen und Waffen durchsuchen und darin Kondome, Dildos und Kakerlaken finden. Dann werden wir feststellen, dass sich die Kakerlaken mit dem Stylus zerquetschen lassen (und dass sie sogar in der Spielstatistik gezählt werden). Der als Essstäbchen beigelegte Stylus kommt auch in zahllosen Minigames zum Einsatz, die organisch in den Spielverlauf eingebettet sind. Dann geht es darum, mittels gezielter Schraubenzieherdrehungen Autos zu knacken, Bomben zu entschärfen oder neue Rekruten zu tätowieren, indem man ein Muster ausmalt. Frustrierend und unausgegoren ist das nur, wenn wir mit dem Stylus zum Beispiel Patienten wiederbeleben, während wir außerdem noch unser Auto steuern und im Grunde drei Hände bräuchten.
Es kann hakelig werden, dieses "GTA", hakelig und fies schwer, aber man mag nicht die Finger davon lassen. Weil dieses mobile Liberty City seine ganz eigene Atmosphäre hat mit tausend Geräuschen und wuselndem Leben auf den Straßen. Gerade die stillen Momente sind sogar intensiver als die in der Storyline immer heftiger werdenden Schlachten, die das "Wars" im Titel wirklich verdienen. Die Nächte zum Beispiel, in denen Dealer zu uns sagen: "Ich bin immer hier, außer wenn ich krank bin, dann ist eine Vertretung hier. Die ist tatsächlich immer da, auch wenn sie krank ist. Ich bin ein guter Kapitalist." Diesem wundervollen "Chinatown Wars" ist eine Menge erwachsener und reifer Spieler zu wünschen, die das Spiel auf allen Ebenen lesen können.
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