Los Sanots als Bushaltestelle, Las Venturas als Dorfdisco
Die "Grand Theft Auto"-Reihe ist nicht deswegen so herausragend, weil sie uns spielerische Freiheit gibt – Die Games erlauben uns, durch die medialen Erinnerungen unserer Kindheit und Jugend zu reisen. Und da wäre noch weitaus mehr möglich
Vielleicht haben die Leute bei Rock- star einen Fehler gemacht. Denn im ersten "Grand Theft Auto" haben sie sich auf nur drei Locations festgelegt: Liberty City, Vice City und San Andreas. Wenn das Besondere an "GTA" sein soll, dass es sich um ein so genanntes Sandbox Game handelt, also um einen Raum der unbegrenzten kreativen Möglichkeiten, dann wäre es doch angebracht gewesen, mal die Grenzen der immer gleichen Sandkästen verlassen zu können und auch in anderen Umgebungen zu schaufeln und die Förmchen zu füllen. Denn die Sandkiste ist die Hauptsache an "GTA". Es ist nicht deswegen ein so ein herausragendes Spiel, weil es darin um Nicht-Linearität und freie Spieleraktivität geht - weil man selbst wählen kann, wann man Missionen ausführt und ob man die Haare lieber lang, kurz oder gar keine tragen möchte. Denn entscheiden konnte man sich in gewisser Weise doch schon immer: Spiele ich jetzt noch das nächste Level, oder gehe ich lieber ins Bett? Starte ich vom letzten Speicherpunkt noch mal, um mit mehr Health und Ammo rauszukommen, oder mache ich einfach weiter? Spiele ich mit dem testosterongeschwängerten Bürstenschnittträger, dem Hochglanzgothic-Zauberer-Beau oder doch lieber mit dem silikonbehängten Amazonen-skelett? Es gibt so viele Möglichkeiten! So viele tolle Varianten, mit einer Figur in eine von acht Richtungen zu laufen, auf Gegner zu schießen und Tränke und Munition vom Boden aufzusammeln! Ginge es "GTA" nur um die Freiheit des Spiels, wäre es nur ein tolles Game unter vielen anderen tollen Games. "GTA" ist allerdings mehr. Beziehungsweise weniger. Sehr viel weniger, um genauer zu sein. Nämlich sehr viel tote Zeit. Tote Zeit zwischen dem Rumlaufen-Auf-Gegner-Schießen-Items-Sammeln. Zeit, in der man nur eines machen kann: mit dem Auto in der Sandkiste rumfahren, Radio hören und mehr oder weniger aktiv die nächste Aktion am Straßenrand zu erspähen. Die Essenz von "GTA" ist Cruising in all seiner sinnentleerten, ziellosen, manischen amerikanischen Pracht. Der waschechte Freitag- oder Samstagabend, der mit stundenlangem Rauf- und Runterfahren der Hauptstraße des Ortes verbracht wird, vom K-Mart-Parkplatz am einen Ende bis zum McDonald's-Drive-Thru auf der anderen Seite der Stadt. Die permanente Möglich-keit, dass einem irgendjemand oder irgendetwas da draußen gefällt, von dem man nicht weiß, wer oder was das eigentlich sein soll. Die permanente Präsentation des eigenen Selbst, damit irgendjemand vielleicht an irgendetwas von einem selbst Gefallen finden könnte, ohne dass man wüsste, was man dafür eigentlich anbieten muss.
Erkenne dich selbst
Der einzige, dem man sich allerdings beim Computerspiel-Cruisen präsentieren kann, ist man selbst. Das ist die einzige Instanz, die beobachten und bewerten kann, ob man cool ist oder nicht. Und die Art und Weise, in der man sich präsentieren kann, liegt nicht in der eigenen Fingerfertigkeit, denn die ist ja standardisiert und Teil des Programms. Beim Cruisen ist ja auch nicht wichtig, wie gekonnt man zwischen zweitem und drittem Gang wechseln kann, das ist notwendig, aber nicht wichtig. Man präsentiert sich in "GTA" selbst, indem man sich bewusst macht, dass man viele coole Dinge kennt und erkennt. Zum Beispiel die Fernsehserie "Miami Vice", die Filme "Carlito's Way" und "Scarface", die Bands Frankie Goes To Hollywood, A Flock Of Seagulls und Wang Chung. Oder man kennt sie, findet sie aber nicht cool. Eine ebenso gekonnte Selbstpräsentation. Wer -allerdings überhaupt nichts in "GTA: Vice City" erkennt, weil er zum Beispiel nicht in den achtziger Jahren aufgewachsen ist, kann dort auch nicht cruisen und sich selbst präsentieren. Für den gibt es "GTA: San Andreas", wenn er denn in der HipHop-Kultur der frühen neunziger Jahre heimisch ist. Man cruist immer nur in der eigenen Nachbarschaft, denn als Fremder möchte und darf man sich nicht präsentieren.
Pop-up-Videospiel
"GTA" ist also auch das Gegenteil eines Sand-kastens. Hier wird nichts gestaltet, sondern nur Gestalten wiederbegegnet. Gestalten aus Medien. Denn das sind die Nachbarschaften, in denen man aufgewachsen ist und in denen man heimisch ist. Und deshalb hat Rockstar vielleicht doch nicht geirrt, als es sich auf Liberty City, Vice City und San Andreas festgelegt hat. Es hat bewiesen, dass man damit verschiedenste Epochen der Popkulturgeschichte abdecken kann. Liberty City ist nicht New York, Vice City ist nicht Miami, und San Andreas ist nicht Kalifornien, obwohl fast -alles in ihnen daran erinnert. Aber es sind Erinnerungen und nicht Abbildungen, Erinnerungen an die Eindrücke von New York, Miami und Kalifornien, die wir aus Filmen, Fernsehserien und Musikvideos gewonnen haben. Und die immer für bestimmte Kontexte stehen: Prohibition, Fifties, Swinging Sixties, Hippiekultur, Roaring Seventies, die Achtziger, HipHop. Insofern können sie wahrscheinlich noch lange weitermachen und für jede Generation die entsprechende Nachbarschaft zum Cruisen zur Verfügung stellen.
Und nicht nur sie! Denn das Tolle an diesem Konzept ist, dass es ja an die diffuse und allen zugäng-liche Kultur gebunden ist und dass auch Cruisen möglich ist, ohne dass man Autos benutzen muss. Denn jeder allein verbrachte Abend vor "den besten Serien aller Zeiten" auf einem entsprechenden Fernsehkanal oder beim Surfen durch das -Youtube-Angebot funktioniert nach denselben Prinzipien. Und es gibt auch länderspezifische Generationskulturen, die bestimmte Gruppen von Menschen teilen. "Generation Golf" von Florian Illies war in diesem Sinne "GTA". Ein Cruisen vorbei an bestimmten Stimulationspunkten einer Generation, das nur Sinn ergab, wenn man dabei gewesen ist. Würde ein deutscher Spieledesigner nach einem äquivalent zu "GTA" suchen, ohne das Copyright von Rockstar zu verletzen, dann sollte er sich die Versoftungsrechte an "Generation Golf" sichern und es umsetzen. Und bitte nicht, indem man Leute aus Autos rauszerrt, durch die Straßen einer Küstenstadt am Golf von Mexiko fährt und Cleaning-Jobs für die örtliche Drogenmafia ausführt. Sondern mit einer an die Zeit, das Land und die Menschen angepassten Cruising-Mechanik.
"GTA" Wolfsburg
In diesem Generation-Golf-Spiel müssten natürlich Golfs, Polos, Mantas und Kadetts vorkommen. Aber nicht, um damit zu cruisen, sondern um an ihnen vorbeizucruisen und sie abzuchecken. Bonanza-Räder wären viel passender. Auch Rollerskates. Schulbusse wären angemessen. Desgleichen Züge der Deutschen Bahn, die damals noch nicht Regionalbahn oder Regionalexpress hießen, sondern einfach nur Zug. Aber eigentlich darf man gar nicht so motorisiert denken. Denn die Generation Golf ist ganz anders gecruist. Indem sie sich an Bushaltestellen getroffen hat, um zu rauchen, Bier zu trinken und zu beobachten, was vor der Bushalte so alles vorbeiströmte. Und wenn es nicht die Bushalte war, dann stand man an der Tankstelle rum, rauchte, trank Bier und beobachtete, was so alles durch die Tanke strömte und an ihr vorbeirauschte. Interessanterweise meistens mittwochs wurde die Location dann gegen eine Dorfdisco eingetauscht, in der alle am Rand der Tanzfläche standen, rauchten, Bier tranken und beobachteten, wer sich gerade auf der Tanzfläche zum Deppen machte bei völlig uncoolen Songs. Nur gelegentlich bei "Sunday Bloody Sunday" oder so was sprangen alle dazu, verhielten sich tänzerisch stilsicher, um sich dann bei folgenden Titeln wie "Enter Sandman" wieder an den Rand zu trollen. Bushalte, Tanke und Dorfdisco - das wären die Entsprechungen für die Räume Los Santos, San Fierro und Las Venturas. Die könnte man becruisen.
Die Missions, die man dabei aufgabeln kann, müssten natürlich den Räumen angepasst sein: Von den anfänglichen Playmobil-Piratenschiff-Steuerungen im heimischen Badezimmer und den kniffligen Versuchen, das neueste "Yps"-Gimmick zusammenzubauen, könnte man sich über Rollschuhslaloms vor dem Haus bin hin zu BMX-Rennen durch den nahe gelegenen Wald vorarbeiten. An der Bushalte ginge es darum, kom-plizierte Rauchzeichnungen mit Zigarette und Feuerzeug an der Decke anzufertigen sowie als vierzehnjähriger ein Sixpack Bier samt Flachmännern für die Gruppe zu organisieren. Als Bonusmission müsste man es schaffen, sich morgens durch den mit Scout-Ranzen bewaffneten Pulk in den Bus zu zwängen, den Platz in der Mitte der Rückbank zu besetzen und ihn gegen die Attacken des Alpha-rüden und seiner Schergen zu verteidigen. Die Tanke würde einen mit dem Kauf eines "Playboy"-Heftes und der Verfolgung einer cabriofahrenden Anglistikstudentin mit dem Fahrrad konfrontieren, zudem müsste man mit der Schrottkarre des großen Bruders von Michael auf dem Feldweg von 0 auf 100 in fünfzehn Sekun-den beschleunigen können. In der Disco schließlich muss man mit gewagten Tanzmanövern die Aufmerksamkeit von Dorfschönheiten erregen, ohne sich von den Schmährufen der anderen Typen irritieren zu lassen. Außerdem müsste man den DJ dazu bewegen, mal diesen Titel von New Model Army zu spielen und nicht bloß Bon Jovi. Dazwischen muss man immer wieder zum Fußballtraining, denn das ist das Hauptertüchtigungs-programm des männlichen Jugendlichen in der deutschen Provinz in den achtziger Jahren. Und als Super-Sonder-Bonusmission wäre auch denkbar, dass man sich eine Wette für Thomas Gottschalk ausdenkt, sie trainiert und schließlich in der Hanns-Martin-Schleyer-Halle in Bad Cannstatt vorführen muss. Vor einem riesigen Saalpublikum. Aber eigentlich nur vor einem selbst.
Text: Mathias Mertens, Illustration: ITF Grafik Design
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