Auf digitalen Schwingen
Einmal im Jahr trifft sich im münsterländischen Ahaus die Elite der Flugsimulations-Piloten zur Europameisterschaft. Dann werden im "Hangar 23" virtuelle Luftkämpfe ausgetragen und im Geschwader Großangriffe geflogen – Hauptsache, alles wirkt möglichst real
Je weiter es nach Westen geht, desto flacher wird das Land. Alles duckt und streckt sich zur holländischen Grenze hin, wo die Orte Metelen heißen und Heek und Horstmar. Hier verschwimmen die Felder und Straßen zu einer grün-braunen Textur, der Camouflage des Münsterlands. Bis zum Horizont scheint der Boden gekachelt worden zu sein. Da hinten ist schon Holland, kurz davor: Ahaus. Das westfälische Städtchen mit den Koordinaten 52° 4' 35'' N 7° 03' 20'' ist abgesehen von seinem berühmten Zwischenlager für alten Kernbrennstoff ein ziviles Fleckchen mit Landwirtschaft, herumlungernden Jugendlichen und einem Schützenverein aus dem 17. Jahrhundert. Ganz am Rande von Ahaus, wo der Geruch von Kuhdung stärker und die Autos mit den foliebeklebten Fenstern wieder schneller werden, schieben sich sechs turnhallengroße, graue Gebäude ins Blickfeld. Das Firmengelände der Softwarefirma Tobit wird durchkreuzt von einer frisch asphaltiert wirkenden Straße, darüber stapfen mit viel zu schweren Stiefeln und in Fliegeruniform fünf Männer. Unter den Armen tragen sie Bretter aus Sperrholz und etwas, das aussieht wie ein abgeschraubter Autositz. Einer hat sich eine Lichterkette um die Schulter geschlungen. An diesem Wochenende trifft sich in der etwas versteckten, "Hangar 23" genannten Parkhalle des Unternehmens die europäische Gemeinde der Flugsimulationspiloten. Das "Lowland Tigermeet" ist Lan-Party, Europameisterschaft und so etwas wie ein jährliches Klassentreffen der Simulanten-Szene in einem. Drei Tage lang spielen die ins-gesamt 125 Gamer auf ihren PCs die drei gängigsten militärischen Flugsimulationen: Das kleinste Grüppchen gibt sich in "IL-2 Sturmovik" den Luftkämpfen des Zweiten Weltkriegs hin. In "Lock On" spielen mehrere Staffeln einen Fan-ta-siekrieg über der Ukraine nach. Aber das Gros der Anwesenden steuert einen F-16-Kampfjet im Spiel "Falcon 4.0 Allied Forces", ein Game, das in seiner jüngsten offiziellen Version nicht weniger als zehn Jahre auf dem Buckel hat.
Das Briefing
Das Interesse am jährlichen "Meet" wächst, der Tobit-Hangar leider nicht: "Zum ersten Mal konnten wir nicht alle Anmeldungen berücksichtigen. Wären alle gekommen, wäre es hier zu eng geworden", sagt Armin Betge, einer der Organisatoren des Treffens. Der Mann mit dem Dreitagebart und rheinischem Dialekt blickt aus der vorletzten Reihe ins dicht besetzte Kino.
Vor ihm ein Traum in Bomberjacken-Grün. Hier, im Gebäude gegenüber dem Hangar, finden die Briefings für die F-16-Piloten statt. Welche Ziele die erste Mission des Meetings hat, wo Gefahren auf die Staffeln lauern und worauf zu achten ist, wenn man seine F-16 in der Luft betanken muss, erklärt "Odin", 38. Der Holländer mit dem martialischen Spitznamen steht zahnstocherkauend vorne an einer Karte und fährt mit einem Zeigestock über ein paar rote Flecken an der Adriaküste. "Odin" - eigentlich heißt er Sandor Beckers - hat die Mission programmiert. Und die führt die Staffeln von Venedig über das Mittelmeer nach Serbien. In Srebrenica stehen einige SA-17-Flugabwehrraketen, die vernichtet werden müssen. Auf dem Rückflug soll eine Luftbetankung absolviert werden, dann geht es zurück ins schöne Italien. "Da wir im letzten Jahr gemerkt haben, dass ihr alle besser ge-worden seid, haben wir das Niveau etwas angehoben", sagt Odin und versucht sein Feixen zu unterdrücken, der Boot-Camp-Atmo wegen.
Auf jedem Paar Knie liegt nun ein Klemmbrett, auf dem Koordinaten in Form von langen Zah-lenkolonnen notiert werden. Die Missionen für die Hobby-Piloten sind äußerst komplex. "Das Handbuch für Falcon 4.0 hat mehr als 500 Seiten", sagt Armin Betge - und das ist, wie Wikipedia weiß, mehr Papier als das Dortmunder Telefonbuch zwischen seinen Deckeln hat. Bevor ihr Kampfjet in der Luft ist, müssen die Spieler bereit sein, einen wesentlichen Teil des Wälzers zu lesen. Wenn sie sich jedoch einem Geschwader anschließen und auf einem Server spielen, "geht die Lernkurve deutlich nach oben". Trotzdem bleibt die Hürde hoch: So einfach rumdaddeln kann man mit den Flugsimulatoren eben nicht. Die Gamer sind nicht die jüngsten. Ein 14-jähriger Nachwuchs-pilot wird stolz präsentiert. Kein Wunder, er unterschreitet das geschätzte Durchschnitts-alter um 20 Jahre.
Fertig zum Abflug
Zu diesem Zeitpunkt würde auf jeder normalen Lan-Veranstaltung wohl der fünfzigste Kill ge--feiert werden, in Ahaus sitzen die Sim-Piloten noch konzentriert in einem kleinen Hörsaal und pauken im Nato-Slang codierte Missionsziele und Windberechnungs-Parameter. Die Simulation geht hier weiter als anderswo: Die Wirklichkeit einer Lan-Party weicht der Illusion einer militärischen Operation. Am Ende der Vorbereitung gibt es ein halb besorgtes, halb aufmunterndes "Stay alive!" mit auf den Weg. Nur als nach Odins Briefing alle klatschen, aber niemand salutiert, ruckelt die Simulations-Engine kurz irritiert. Doch nur Spaß, das Ganze? "Den militärischen Hintergrund, vor dem sich das alles abspielt, brauchen wir vor allem, damit die 'Meet' zum Wettbewerb wird", sagt Organisator Betge. Bei der Simulation eines Schönwetter-Linienflugs vom Münchner Franz-Josef Strauß-Airport nach London-Heathrow würde den Teilnehmern wohl auch die ständige Bedrohung fehlen: Wie ein Menetekel der kriegsversehrten Echtwelt baumelt an der Decke des Hangars eine SU-22 - ein ausrangierter russischer Bomber, den Sponsor Tobit eigens aus Ungarn ins Müns-terland gekarrt hat. Auf den Tragflächen des Flugzeugs balanciert ein Gutteil der Atmosphäre des Events, darunter herrscht bereits Anspannung, Teamspeak-Geflüster im Licht der aufgereihten Monitore. Im Dunkel der Halle erkennt man Piloten, die es bei allem Spaß noch ein bisschen ernster meinen als die anderen: Sie sitzen in kleinen Eigenbau-Cockpits, in einer Konstruktion aus Auto- oder besser noch Flugzeugsitz, einem zurechtgesägten Sperrholz-Chassis, LCD-Bildschirm, Armaturen, Leuchten, zwei Joysticks, einer links für den Schub, der zweite rechts für die Lenkung, dazu noch Fußpedale für die Höhenruder - fertig ist die Seifenkiste des Computerzeitalters. Die Hebel funktionieren, die Knöpfe sind mit Tastenkombinationen eines PC-Keyboards geschaltet, und der Urlaub ist abgesagt. Denn "3000 Euro kann man in so ein Cockpit locker investieren", sagt Armin Betge, der ebenfalls auf einem kleinen Thron aus Blinklichtern sitzt.
Wie viel Geld Sergej Buragin, 43, in sein Cockpit investiert hat, verrät er nicht, nur eines gibt er zu verstehen: Als es fertig war, war er Single. Buragins Cockpit ist nicht wie die anderen flach und einsehbar - wenn der Russe aus dem Pfälzerwald seinen Bomber fliegt, verabschiedet er sich in einen kleinen Schrank. Der ist gerade groß genug, um alles Equipment zu fassen, inklusive On-Board-Kamera, drei Monitoren und Feuerlöscher-Attrappe. "Ich wollte dieses klaustrophobische Gefühl, mich einzuschließen und zu konzentrieren. Keine Ablenkung durch unbe-zahlte Rechungen oder eine Freundin, die in der Küche mit dem Geschirr klappert." Sergej Buragin setzt den Helm auf, schließt die kleine Tür hinter sich und ist in der Luft - un-erreichbar über dem kleinen Stück der Ukraine, das für "Lock On" programmiert wurde. Der Mittvierziger liebt aber auch die gemütlichen Aspekte. "Ich genieße das Fliegen an sich. Ein-fach aus dem Fenster gucken, unten die kleinen Häuschen sehen und die grünen Bäume. Das ist wirklich ein bisschen wie fliegen." Mit der Sow-jetarmee in die DDR gekommen, entdeckte der gelernte Elektroingenieur seine Liebe zur Flie-gerei tatsächlich erst über das "Lock On"-Spiel. Außerhalb seines "Black Box" genannten Simulatorkastens ist er ein echter Missionar der gemeinsamen Sache, er verteilt eine Infomappe, rechnet für alle Interessierten vor, wie viele Kilometer Kabel in seinem Pferdesarg verlegt worden sind, und hilft den Rookies, die ersten Missionen heil zu überstehen. Dafür wird er morgen mit dem "Tiger Spirit Award" belohnt. Sergej Buragin spricht voller Respekt von seinen Gegnern. Er schwärmt sogar ganz offen von einer fremden Staffel - dem 32. Geschwader: "Das sind die besten Jungs. Mit denen würde ich gern fliegen. Aber die haben am Freitag und am Wochenende Pflichttraining, wenn ich arbeite. Wer da nicht anwesend ist, fliegt raus."
Das 32. "Lock On"-Geschwader pflegt das Selbstverständnis einer Elitetruppe. Die harte Routine lohnt sich, die Teams gehören regelmäßig zu den Gewinnern im Wettbewerb des "Lowland Tiger Meet". Einer von ihnen ist Wolfgang Pie-persberg, 33, genannt "Woody". Der virtuelle Major arbeitet im echten Leben bei der Flugsicherung in München. Und dennoch: "Im ech-ten Leben reizt mich das nicht. Ich bin schon öfter im realen Cockpit mitgeflogen, aber selbst das wiegt den Alltag eines Piloten für mich nicht auf. Ich will nicht jede Nacht im Hotel schlafen." Mit seinem Job bei der Flugsicherung ist der Si-mulationspilot mit dem dunklen Locken näher am Pilotenberuf als die meisten hier: Armin Betge ist in der Catering-Branche, Sergej Bura-gin ist "der Herr Ober", manche sind Handwer-ker, andere Studenten. Nur Jan Hilt, 41, ist ähn-lich dicht an der Materie. "Ich habe den Job, den die meisten hier gerne hätten", sagt der Veran-stalter des "Lowland Tigermeet". Er arbeitet als freier Experte in Sachen Simulationen. Früher, als der groß gewachsene Holländer noch einen Campingplatz managte, bastelte er in seiner Frei-zeit an eigenen Simulations-Engines. Inzwischen ist er unter anderem Berater für die Simulationsabteilung der niederländischen Luftwaffe.
Wieder am Boden
Am nächsten Morgen erscheint dann ein echter Militär in Ahaus: Erik "Corny" Cornelisse betritt das Tobit-Gelände. Der Testpilot und ehemalige Instructor der holländischen Luftwaffe soll den Möchtegern-F16-Piloten die kerosinstinkende Realität eines echten Gorilla-Briefings näher bringen. Bei solchen Großeinsätzen fliegen mehrere Staffeln einen koordinierten Angriff. Cornelisse steht vor den Teilnehmern und doziert zum Thema Formationsflug. Er nimmt die Amateure so ernst, wie die es sich wünschen. Fragen, auf die es keine Antworten gibt, über-hört er schlicht. Er muss nicht sagen, dass es hier um Leben und Tod der kosovarischen Zivil-bevölkerung geht, er kneift einfach die Augen zusammen. Die Narben in seinem Gesicht erinnern an Jürgen Prochnow. Als er mit seiner Präsentation fertig ist, kann er aber auch lachen. Dann kann man sehen, dass er eine Zahnspange trägt. "Die wichtigste Voraussetzung für einen Piloten bringen hier fast alle mit", sagt er: "Enthusiasmus." Aus Buragins kleinem Simulationskasten steigt gerade ein etwas enttäuschter Nachwuchspilot. Irgendwo auf der Krim ist er zu tief geraten und ganz ohne Feindkontakt mit seiner SU-25 einfach aufgeschlagen. Dabei war der Blick gerade so schön, die Häuschen da unten so real. "Dafür braucht man schon Talent.
Pilot werde ich keiner mehr", lautet sein etwas ge-kränktes Resümé. "Ach was", tröstet Sergej Buragin, "jeder ist ein Pilot." Hier, in der Realität von Ahaus, schon.
Text: Lennart Wegner, Fotos: Alfred Jansen
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