Außer Kontrolle
Games sind Zeitvertreib, Passion und Profisport. Für immer mehr Menschen werden sie jedoch zum Zwang: Gamer verlieren sich in Online-Welten und verspielen ihre Zukunft. Deshalb hat die Uniklinik Mainz jetzt eine Ambulanz für Computerspiel-Süchtige eröffnet. Wir haben sie besucht
Auf der Glastür klebt ein Zettel aus dem Laserdrucker: "Computerspielsucht-Ambulanz" steht darauf geschrieben, es ist weit und breit der einzige Hinweis auf den Arbeitsplatz von Klaus Wölfling. Hinter der Tür empfängt ein langer Flur seine Besucher. Grauer Linoleumboden, Neonlicht, ein grüner Stuhl steht an einem kleinen Tisch: ein tristes Wartezimmer für jene, die sich hier der Wirklichkeit stellen wollen. "Wir sind hier provisorisch untergebracht", entschuldigt sich der psychologische Leiter der Ambulanz und bittet in sein Büro. Dort: stapelweise unsortierte Zettel, ungelesene Post und aufgeschlagene Bücher. An der Wand Kinderzeichnungen, mit Tesafilm befestigt. Bis Mitte des Jahres bleibt die Ambulanz in diesem fünften Stock eines Gebäudes auf dem Campus der Johannes-Gutenberg-Universität, der so groß ist, dass Taxifahrer einen Lageplan dafür brauchen. Klaus Wölfling ist für seinen neuen Job extra von Berlin nach Mainz umgezogen, nimmt die räumlichen Verhältnisse aber gelassen: "Wenn wir erst auf das Gelände des Universitätsklinikums umgezogen sind, wird alles viel schöner", sagt er und grinst. Und arbeiten kann er vorerst auch hier.
In den drei Wochen nach der Eröffnung der Ambulanz im März haben sich bereits 57 Menschen bei ihm gemeldet. "Die Hälfte davon sind richtige Fälle", sagt der 36-jährige Diplom-Psychologe. "Richtige Fälle" sind Patienten, "die nicht mehr spielen, weil es ihnen Spaß macht, sondern weil sie nicht mehr anders können", sagt Wölfing, "und viele davon haben nicht die Kraft, es allein zu ändern". Wenn sie nach Mainz kommen, ist ein wichtiger Schritt getan: "Man kann nur Menschen therapieren, die das wollen", sagt er. "Therapie ist Umdenken. Der Therapeut kann nur den Weg zeigen und die Patienten begleiten. Gehen müssen sie selbst."
Nein, nicht jeder, der viel spielt, ist süchtig. Die Spieldauer selbst ist nicht einmal das Hauptsymptom der Sucht. Aber natürlich spielen Süchtige extrem viel. So viel, dass sie an Folgeerscheinungen leiden. Sie kapseln sich ab von Freunden und Familie, sie ernähren sich falsch, sie zeigen Entzugserscheinungen wie Nervosität, Aggression oder Schlaflosigkeit. "Essen, Hygiene, Interessen - alles wird nebensächlich", sagt Klaus Wölfling, "das Spiel dominiert den Alltag."
Das Abgleiten in die Sucht beginnt meist damit, dass die virtuellen Spielewelten zum Zufluchtsort vor realen Problemen werden. Ärger, Stress und Defizite werden dort kompensiert, da in Videospielen Anerkennung, Erfolg und Zuspruch leicht zu bekommen ist. Es ist so verlockend, den echten Problemen vermeintlich so einfach zu entkommen, dass immer häufiger gespielt wird. Der Übergang zur Sucht ist dann fließend. Er ist für die Betroffenen nicht zu erkennen. Schleichend wird aus dem Vergnügen ein Verlangen.
Gehirnströme wie Alkoholiker
Wie Computerspielsucht den Menschen verändert, haben Wölfling und seine Kollegin Sabine Grüsser-Sinopoli bereits in der Suchtforschungsgruppe an der Berliner Charité herausgefunden - mithilfe der Elektroenzephalografie, besser bekannt als EEG. Die Forscher fixierten Elektroden auf den Köpfen ihrer Probanden, um deren Gehirnströme zu messen, während sie ihnen Bilder vorlegten, die mit ihrer Sucht in Verbindung standen. Einige Computerspieler zeigten beim Anblick von Spiele-Screenshots dieselben Reaktionen wie Alkoholiker auf Bilder von Bier. Die "nicht stoffgebundene" Computerspielsucht aktivierte die gleichen Hirnareale wie Alkohol- oder Cannabissucht. Die Experten waren alarmiert und beschlossen, dem auf den Grund zu gehen.
Klaus Wölfling weiß inzwischen recht genau, was in den meisten Fällen die Sucht auslöst: "Der entscheidende Faktor ist die Online-Anbindung", sagt er: "Die betreffenden Spiele haben kein Ende, Raum und Zeit werden irrelevant, und sie ermöglichen virtuelle Kontakte." Dies treffe auf viele Games zu, auf "World Of Warcraft" wie auf "Counter-Strike". Wölfing hat sogar schon Abhängige erlebt, die Prügelspiele online spielten. Doch das sei die Ausnahme: "Das Suchtpotenzial von Online-Rollenspielen wie 'World Of Warcraft' oder 'Everquest' ist besonders hoch", warnt der Psychologe, "denn die Welt pausiert nicht, wenn der Spieler den Computer abschaltet. Eher läuft er noch Gefahr, virtuelles Prestige zu verlieren. Außerdem entsteht durch das gemeinsame Lösen von Aufgaben im Spiel ein starkes Gruppengefühl" - etwas, das viele Süchtige aus ihrem realen Leben gar nicht kennen.
85 Prozent seiner Patienten sind männlich und zwischen 16 und 30 Jahre alt. Bei ihnen setzt der Ambulanzleiter auf Gesprächstherapie. In einem Besprechungszimmer, das mit seinen vertrockneten Topfpflanzen noch trister wirkt als der Flur am Eingang. Welke Blätter fallen auf den grauen Teppich, ein riesiger Schreibtisch verbraucht die Hälfte des Raumes. Wölfling geht voran und hebt den Hörer eines Telefons ab. Er ist erstaunt, dass er ein Freizeichen bekommt. Dann zeigt er auf ein rundes Tischchen. Daran setzt er sich mit seinen Schützlingen eng zusammen. "Das schafft Vertrauen." Im Zwiegespräch mit dem Patienten versucht er herauszufinden, was diesen zum exzessiven Spielen treibt und was es in ihm auslöst. Dann entwickeln die beiden individuelle Strategien, die das entglittene Verhalten in Zukunft im Zaum halten sollen. Das ist selten leicht: "Oftmals entwickeln die Patienten irrationale Kontroll-Überzeugungen, um ihr Spielen vor sich selbst zu rechtfertigen", sagt Wölfing. Nicht wenige behaupten ernsthaft, für eine Karriere als Profi-Gamer zu trainieren, um damit später ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Manche wollen "nur einmal gegen den Weltmeister spielen" oder andere unmögliche Ziele erreichen. In langen Gesprächen bringt der Leiter der Ambulanz sie dazu, das Absurde ihres Verhaltens zu erkennen.
Im zweiten Schritt wird er mit den Patienten in Gruppen arbeiten - ein Modell, das sich bei der Therapie anderer Süchte bereits bewährt hat. Zum einen erkennen die Teilnehmer auf diese Weise, dass es andere Menschen mit ähnlichen Problemen gibt, dass sie nicht allein dastehen und sich nicht zu schämen brauchen. Das gibt vielen Sicherheit. Außerdem nehmen sie in den Gruppensitzungen wieder soziale Kontakte auf und merken, dass ihnen auch das möglich ist. Die vereinbarten Ziele werden zudem durch die Gruppe verbindlicher, schließlich will nie-mand seine neuen "Freunde" enttäuschen. Und das spornt an durchzuhalten. Auch die Erfolge der anderen spielen dabei eine Rolle: "Wenn der das kann, kann ich das auch" - das schafft Motivation.
Das Ziel der Therapie ist nicht, nie wieder zu spielen. Im Vordergrund steht der vernünftige und verantwortungsvolle Umgang. "Teil der Behandlung ist die Kompetenzmitnahme", sagt Klaus Wölfling, "wir wollen miteinander herausbekommen, welche positiven Effekte das Spielen auf den Einzelnen hat und was er daraus lernen kann." Im realen Leben ebenso charmant flirten zu können wie in der virtuellen Welt, zum Beispiel. Oder eine echte Gruppe so effizient zu führen wie einen Clan in "WoW". Es gilt zu lernen, positive Aspekte im realen Leben umzusetzen. Von "ihrem" Suchtspiel allerdings sollten die Patienten nach zwölf Monaten abstinent sein.
Der Vorteil seiner Mainzer Ambulanz gegenüber stationären Einrichtungen liegt für Wölfling auf der Hand: Würden die Patienten für Wochen aus ihrer normalen Umgebung herausgenommen und irgendwo in der Einöde therapiert, wo es keine Computer gibt, sei die Gefahr sehr groß, dass sie nach der Heimkehr rückfällig würden. Weil sie nicht gelernt haben, mit den Verlockungen des Spiels umzugehen, sondern lediglich, darauf zu verzichten. Vielen fehle dann die Kraft zum Widerstand, und sie seien schnell wieder in ihren virtuellen Welten gefangen. In Mainz hingegen gehen die Patienten nach der Behandlung nach Hause, werden dort mit ihrem eigenen PC oder ihrer Spielkonsole konfrontiert und müssen deren Reizen aus eigener Überzeugung widerstehen - und sollte das nicht klappen, wird in der nächsten Therapiestunde darüber geredet und gemeinsam überlegt, was den Rückfall ausgelöst hat und wie man ihn in Zukunft vermeiden kann.
Warnhinweise auf Spielen
Trotz seiner Erfahrungen sind Computerspiele für den Psychogen kein Teufelszeug - er befürchtet jedoch eine wachsende Zahl von Heranwachsenden, die dem Sog des Digitalen nichts Reales entgegenzusetzen haben. "Es gibt viele Dinge, die entgleiten können", sagt Wölfling. "Spiele haben diesbezüglich jedoch ganz offensichtlich ein besonders hohes Potenzial."
Deswegen sieht er die Hersteller in der Pflicht, entsprechende Spiele zu kennzeichnen. Denkbar wären Aufkleber, wie sie auf Geldspielautomaten gang und gäbe sind. Ohne Druck macht das natürlich kein Spielehersteller, das müsste per Gesetz geregelt werden. Und das wird noch dauern, denn bislang ist das "junge Störungsbild" der Computerspielsucht nicht als Sucht anerkannt. Es gibt zu wenige wissenschaftliche Studien. Die Ambulanz in Mainz läuft vorerst als Modellprojekt, die Kosten trägt die Universität, von den Krankenkassen gibt es nur eine allgemeine Fallkostenpauschale dazu. Wölfling leistet also Pionierarbeit. Und wenn seine Therapien in zwölf Monaten beendet sind, werden die Ergebnisse dazu beitragen, die Computerspielsucht genauer zu definieren und neue Behandlungsmethoden zu entwickeln.
Ansprechpartner bei Computerspielsucht
Kontakt zur Computerspielsucht-Ambulanz in Mainz:
Montag bis Freitag zwischen 12 und 17 Uhr unter der Telefonnummer 0800 / 152 95 29. Mehr Infos unter
www.verhaltenssucht.de.
Weitere Angebote:
"Lost In Space. Beratung für Internet- und Computerspielsüchtige", Caritasverband für das Erzbistum Berlin e. V., Große Hamburger Str. 18, 10115 Berlin, Tel. 030 / 66 63 34 66.
"Mediensuchtberatung der evangelischen Suchtkrankenhilfe Mecklenburg-Vorpommern", Körnerstr. 7, 19055 Schwerin, Tel. 0385 / 500 62 03. Mehr Infos unter
www.suchthilfe-mv.de.
Im Netz:
www.onlinesucht.de
www.rollenspielsucht.de
Text: Moses Grohé, Fotos: Matthias H. Risse
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