Die neue Schlauspielschule
Videospiele machen aggressiv, faul und vor allem: dumm. Won wegen! In "Klick. Wie moderne Medien uns klüger machen" behauptet der Autor David Pfeifer das genaue Gegenteil: Games machen schlauer. Für GEE fasst er seine wichtigsten Erkenntnisse noch einmal zusammen
Videospiele sind üble Zeitverschwendung. Sie machen dick und faul, isolieren die Spieler und versetzen ihre Gehirne in eine Art Dämmerschlaf. Seit es Videospiele gibt, haftet ihnen diese Einschätzung an. Die Computerspieler der ersten Generation sind die Kinder der 68er - und denen war die ganze Entwicklung der Medien suspekt. Kaum überraschend also, dass Ende der siebziger Jahre die US-Autorin Marie Winn mit ihrem Fernseh-Warnungsbuch "Die Droge im Wohnzimmer" einen Bestseller landete. Und Computerspiele, diese grob gepixelten Süchtigmacher, hielt man für noch gefährlicher als das Fernsehen. So das Bild in weiten Teilen der Gesellschaft - seit numehr fast 25 Jahren. Dabei haben Computerspiele in dieser Zeit eine ästhetische und inhaltliche Entwicklung durchgemacht wie kein anderer Zweig der Kulturindustrie. Am Anfang waren die Geschichten simpel, die grafische Darstellung an die beschränkten technischen Möglichkeiten der ersten Konsolen und Computer gekettet. Moderne Videospiele sind dagegen so vielschichtig und anspruchsvoll geworden, dass sie sich verhalten wie die "Der Pate"-Trilogie zu den ersten Slapsticks von "Dick und Doof". Ein heutiges Computerspiel führt seinen Nutzer durch eine komplexe Handlung, es bringt ihm dabei - mehr oder minder als Nebeneffekt - die komplizierte Bedienung bei und verlangt ihm intellektuell mehr ab, als jede Fernsehserie das könnte. Die Spieler müssen der Geschichte folgen, Rätsel lösen, ihre Figuren in Stresssituationen unter Kontrolle behalten, verdeckte Hinweise beachten und immer weiter lernen, immer besser zu werden. Und von Spielegeneration zu Spielegeneration werden die Anforderungen hochgeschraubt. Die Mischung aus Versuch, Scheitern, Anpassung der Theorie an die neue Erkenntnis, erneutem Versuch und gelegentlichem Erfolgserlebnis ist die Formel, nach der erfolgreiche Computerspiele erdacht werden. Der US-Medienwissenschaftler Steven Johnson weist deswegen in seinem Bestseller "Everything Bad Is Good For You" darauf hin, dass Computerspiele im Grunde nichts anderes schulen als die Mechanismen des wissenschaftlichen Arbeitens. Kein Wunder, dass im Mathematikstudium zunehmend diejenigen Schüler auftauchen, die früh angefangen haben, sich mit Computern auseinander zu setzen. "Mathematik erfordert eine hohe Frustrationstoleranz", erklärt Prof. Dr. Dr. Martin Grötschel, Vorsitzender des Weltmathematiker-Verbandes, "die Studenten müssen sich ein Ziel teilweise über Jahre hinweg vornehmen und wissen die ganze Zeit noch nicht mal hundertprozentig, ob sie auf dem richtigen Weg sind." Doch Games schulen nicht nur die Geduld, sie prägen auch die Reaktionsfähigkeiten, das räumliche Vorstellungsvermögen und das Handeln unter Stress. Dies zeigt sich am eindrucksvollsten an einem Beispiel aus der modernen Chirurgie. Das "Beth Israel Medical Center" in New York stellte vor zwei Jahren in einer Untersuchung fest, "dass Videospielen die Koordination zwischen Augen und Hand verbessert, dass Reaktionszeiten schneller werden, ebenso wie die Möglichkeit zu visualisieren und die Fähigkeit, sich auf optische Reize zu konzentrieren und räumlich wahrzunehmen", wie James Rosser Jr, der Direktor, erklärt. Rosser hatte immer das Gefühl, "dass meine langjährige Erfahrung mit Computerspielen mich besser mit den laparaskopischen Instrumenten umgehen ließ." Bei einem laparaskopischen Eingriff werden durch einen winzig kleinen Schnitt in der Bauchdecke eine Kamera, ein kleiner Scheinwerfer und Instrumente eingeführt - die Operation wird am Bildschirm überwacht und gesteuert. Die Untersuchung ergab, dass die Ärzte, die mehr als drei Stunden pro Woche mit Computerspielen verbrachten, eine um 37 Prozent geringere Fehlerquote bei der Ausführung von laparaskopischen Eingriffen hatten. Zudem konnten sie diese um 27 Prozent schneller ausführen als ihre Kollegen, die nicht spielten. Die Reaktionszeit, Hand-Auge-Koordination und räumliche Wahrnehmung gehören zu dem, was Neurologen und Psychologen als kognitive Fähigkeiten bezeichnen. Alles, was das Denken im weiteren Sinn ausmacht. In der Neuropsychologie werden deswegen seit Jahren schon Computerspiele eingesetzt, wenn es um die Analyse von Ausfällen in ebendiesem Bereich geht. Im neuropsychologischen Rehazentrum in Wiesbaden gibt es einen großen Computerraum, in dem Patienten mit Gedächtnisverlust oder halbseitigem Gesichtsfeldausfall mit Spielen trainieren. Maria Pilar Rodriguez, die hier als Neuropsychologin arbeitet, setzt ihre Patienten an Spiele, in denen ihre Aufmerksamkeit, Reaktionsgeschwindigkeit und Konzentrationsfähigkeit nicht nur gemessen, sondern gefördert werden. Die Spiele wirken zwar alle wie aus der Steinzeit des Computerspielens, aber sie erfüllen ihren heilsamen Zweck. Und wenn sie den Patienten zu öde werden, können sie zur Abwechslung auch mal einen absoluten Klassiker starten: "Frogger". "Dabei geht es schließlich darum, schnell zu reagieren, sich zu konzentrieren und den Überblick zu behalten", erklärt Frau Rodriguez. "Und das schult den Geist". Eine Analyse, die nicht nur auf die Patienten in ihrer Klinik zutrifft, sondern allgemein gilt. Wir alle sind nicht dümmer geworden in den vergangenen Jahrzehnten, durch das Fernsehen, Computer, Internet und Spiele. Ganz im Gegenteil. Denn genau genommen ist der Intelligenzquotient in der westlichen Welt seit dem Zweiten Weltkrieg sogar kontinuierlich gestiegen. Der neuseeländische Politikwissenschaftler James Flynn hat diese Entwicklung nach-gewiesen, weswegen sie als "Flynn-Effekt" bezeichnet wird. Flynn stellte fest, dass die IQ-Tests seit den Fünfzigern immer mehr verschärft wurden. IQ-Tests dienen dazu, Intelligenzstufen innerhalb einer Gesellschaft festzulegen. Der Durchschnitt der Bevölkerung sollte immer bei einem IQ von 100 liegen, nur zwei Prozent sollen unter der Marke von 70 landen und zwei Prozent über der Marke von 130. Über die Jahre musste der Schwierigkeitsgrad der Tests angepasst werden, damit die breite Masse der Bevölkerung immer noch bei einem IQ von 100 landete - und zwar nach oben. Wenn man nun aber zurückrechnet, sind die Werte bei jedem Generationswechsel um 10 Punkte angestiegen. Wer also heute 110 Punkte erreicht, hätte bei einem IQ-Test von vor 30 Jahren noch einen Wert von 120 erzielt. Auffällig ist dabei, dass sich die sprachlichen und arithmetischen Fähigkeiten der Menschen eher langsam entwickeln, während die abstrakten, visuell-räumlichen Fähigkeiten schneller zunehmen. James Flynn führt das auf die gestiegene Nutzung von Fernsehen und Computern zurück, die in immer jüngeren Jahren Einfluss auf die Entwicklung der Menschen nehmen und sowohl die räumliche Vorstellung wie auch das Abstraktionsvermögen schulen. Die Fähigkeit, Muster zu erkennen und Analogien zu ziehen, wie sie in Intelligenztests oft verlangt wird, ist gestiegen. Der Kinderpsychologe und Erziehungswissenschaftler Wolfgang Bergmann geht sogar so weit, dass er Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen an den Computer setzt und sie spielen lässt. "Bei hyperaktiven Kindern gibt es eine Grundmenge von etwa 70 Prozent, die können am Computer plötzlich all das, was sie in der Realität nicht können: Sie konzentrieren sich, fixieren ein Ziel, sie gehen dieses Ziel über geordnete Schritte an und machen sich einen Plan." Bergmann hält die Struktur von Videospielen für eine geeignete Ordnung, an der sich Kinder orientieren können. "Vor einem Computerspiel müssen sie lernen: ‚Aha, ich habe den falschen Weg gewählt, ich muss also Punkt für Punkt zurückgehen, einen neuen Plan machen, meine Entscheidung überdenken.‘" Die Erfahrungen, die Wolfgang Bergmann bei der Arbeit mit den Kindern macht, sind sehr konkret: Erstens sind die Kinder aufmerksam, wenn sie sich mit ihm an ein Spiel setzen. Zweitens sind sie nicht genervt, wenn sie zu ihm in die Praxis kommen müssen, sondern freuen sich auf den Besuch. Dabei gibt es nur ein Problem: Wenn Kinder von der Übermacht der digitalen Bilder und Zeichen überrannt werden, bevor sie anständig schreiben und lesen gelernt haben, werden sie Probleme haben, das nachzuholen. Es wäre also trotz aller positiven Effekte brandgefährlich, Kinder nur mit Computerspielen zu sozialisieren. Aber genau das ist das größte Ärgernis am Technikpessimismus: dass immer so getan wird, als würde das eine das andere ersetzen und nicht ergänzen. Tatsächlich können Buch und Computerspiel sehr gut in einem Kopf verarbeitet werden. Das zweitgrößte Ärgernis ist die manipulative Betrachtung: Nur etwa vier Prozent des Umsatzes der Computerspiele-Industrie wird in Deutschland mit Titeln gemacht, die ab 18 Jahren freigegeben sind. Das ist schon deswegen kurios, weil gefühlte 98 Prozent der Berichterstattung in Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehen sich auf diese Spiele konzentrieren. Wie eng der Zusammenhang zwischen Computerspielen und realen Handlungen ist, wurde leider noch kaum erforscht. Deswegen ist in der aktuell wieder hochkochenden Diskussion um "Killerspiele" auch so schwer zu argumentieren, ohne sich verdächtig zu machen, als Anwalt der einen oder anderen Seite zu fungieren. Dabei reicht ein Blick in die Hitlisten der Verkaufscharts des vergangenen Jahres, um sich ein wenig zu entspannen: Die Spitzentitel sind "World Of Warcraft", "Need For Speed: Most Wanted" und "Fifa 06". Dazwischen Kinderspiele wie "Pokémon" und "Lego Star Wars" und Albernheiten wie das Karaoke-Spiel "Sing Star - The Dome". Es finden sich zwar auch das Ballerspiel "Half-Life 2", das Kriegsspiel "Battlefield 2" und der Grusler "Resident Evil 4" auf den vorderen Plätzen - aber Vertreter dieses Genres sind nicht in der Überzahl. Und der uneinholbare Toptitel 2005 waren "Die Sims 2", die schon im Jahr zuvor mehr als 500000 Mal verkauft wurden. Harmloser, lustiger, aufwendiger und intelligenter kann ein Computerspiel kaum sein. Man kann darüber streiten, ob "Die Sims" das richtige soziale Modell vermitteln - Geld verdienen macht glücklich, wer das größere Haus baut, hat mehr Freunde und so weiter - aber klar ist: Das Spiel zwingt seine Spieler zum Nachdenken, Konzentrieren, zu überlegtem und sozialem Handeln. Gleichzeitig müssen die Spieler eine extrem komplexe Welt im Kopf behalten. Sie lernen das Zusammenspiel von Ursache und Wirkung im Kleinen wie im Großen. Die Wissenschaftler des Otto-von-Guericke-Instituts in Berlin behaupten: "Durch seine spielerische Förderung von Denkvermögen, Kompromissbereitschaft, Toleranz, Kreativität und sozialem Bewusstsein kann die Simulation ,Sims 2‘ dazu beitragen, Kinder und Jugendliche für eine weitere Integration in die Welt der Erwachsenen zu sensibilisieren." In einer Welt, die gerade für Heranwachsende immer komplexer und unübersichtlicher wird, kann es nicht schaden, wenn eine Parallelwelt zur Verfügung steht, in der man sich erst mal ausprobieren kann, in der man, ohne wirklich Schaden zu nehmen, testen kann, wie weit man gehen, was man sich erlauben darf. Der Erfolg von "Second Life" hat viel damit zu tun, dass es realitätsnah, aber eben nicht -gleich ist. Und kein Spieler verwechselt das, wie oft geunkt wird. Dass er wieder zurück im wahren Leben ist, merkt der Spieler spätestens daran, dass der Abwasch oder die Hausaufgaben immer noch nicht gemacht sind und der Lebenspartner den Kopf schüttelt, weil schon wieder drei Stunden vergangen sind, seit er zum letzten Mal "nur noch fünf Minuten" gesagt hat. Der Autor David Pfeifer, 36 Jahre alt, ist Journalist und lebt in Berlin. Er war Chef vom Dienst bei "Tempo", Chefredakteur des Magazins "Konrad" und Ressortleiter für Unterhaltung und Medien beim "Stern". Seit 2002 arbei-tet er als Verlagsberater und als Autor für "Neon", das "SZ-Magazin", "Geo" und andere. Pfeifer war Waldorfschüler, wuchs bis zu seinem 12. Lebensjahr ohne Fernseher auf und stieg dann umso leidenschaftlicher in die Welt des Commodore 64 ein. Sein erstes Spiel war "Summer Games", seine erste Konsole ein Sega Mega Drive. In den letzten Jahren kommt er aus Zeitmangel kaum noch zum Spielen, nur über die Weihnachtsfeiertage nimmt er sich ein, zwei Titel vor, zuletzt "Need For Speed: Most Wanted" und "God Of War". Text: David Pfeifer, Illustration: ITF Grafik Design