Eine neue Eiszeit
Von null auf hundert in einem Spiel, so geht die Erfolgsgeschichte von Crytek. Mit dem Egoshooter „Far Cry“ katapultierte sich das deutsche Entwicklerstudio vor zwei Jahren quasi über Nacht in die erste Liga der internationalen Game-Designer. Und bewies nebenbei, dass erfolgreiche Games made in Germany nicht zwangsläufig Strategiespiele sein müssen. Nun steht der Nachfolger „Crysis“ ins Haus. Der besitzt alles, was ein Spiel braucht, um selbst die internationale Premium-Konkurrenz wegzupusten. Atemberaubende Grafik, frisches Gameplay – im Wortsinn – und eine Story, die sich vor Hollywood nicht zu verstecken muss. Oder? Wir sind in den neuen Firmensitz von Crytek gedüst, um das neue Meisterwerk unter die Lupe zu nehmen
Von außen ist dem Bürogebäude nicht anzumerken, dass hier Menschen eingefroren werden. Es sind 34 Grad im Schatten. Der heißeste Tag des Jahres. Draußen, vor dem Firmengebäude von Crytek, stinkt es nach dampfendem Teer, mit dem die Löcher in der fünfspurigen Straße von schwitzenden Arbeitern aufgefüllt werden. Es stinkt nach den Industrieabgasen der Chemiefabrik auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Vor allem aber stinkt es nach den Auspuffgasen Zigtausender Büroarbeiter, die wie an jedem Werktag unablässig durch die Verkehrsadern Frankfurts strömen. Cevat Yerli, der jüngste der drei Direktoren des Gamestudios Crytek, rollt in seinem silbernen Sportwagen fast lautlos die Auffahrt herauf. Auf dem Nummernschild stehen seine Initialien. Er zieht eine Magnetkarte durch das Lesegerät, die Schranke hebt sich, und er verschwindet im Schatten der Firmengarage. Im Inneren des sechsstöckigen Flachdachbaus schlägt einem sofort die Kälte der Klimaanlage entgegen. Die Empfangsdame ist kaum zu sehen hinter ihrem Schalter und vor dem Podest, auf dem all die Preise aufgereiht sind, die das Entwicklerstudio Crytek mit seinem Erstling "Far Cry" gewonnen hat. Der Umzug des Entwicklerstudios Crytek aus dem idyllischen Coburg in die Bankenmetropole am Main hat etwas Symbolisches. Crytek ist im Mega-Business der internationalen Unterhaltungssoftware-Riesen ganz oben angekommen. Vor gerade mal zwei Jahren hatten die drei Brüder Avni, Faruk und Cevat Yerli mit ihrem Egoshooter "Far Cry" mehr oder weniger aus dem Nichts die gesamte Games-Branche überrascht. Zum ersten Mal vor allem konnte ein deutscher Egoshooter auch das amerikanische Publikum zu Begeisterungsstürmen hinreißen. Nun wollen sie sich mit ihrem nächsten Spiel endgültig in der ersten Liga der Videospielentwickler etablieren. "Crysis" heißt es und ist ebenfalls ein Shooter. Und es spielt auch auf einer tropischen Insel. Ein zweites "Far Cry" wird es trotzdem nicht. ",Crysis' wird keine Schwachpunkte haben. Ganz im Gegensatz zu ‚Far Cry'." Cevat Yerli wirkt entspannt in seinem Sessel des Konferenzraums. Nicht so, als würde er übertreiben oder nach Komplimenten fischen. Hinter ihm hängt eine große Leinwand - wie ein Versprechen, als würde sie sagen: Alles was in diesem Raum behauptet wird, kann jederzeit bewiesen werden. Ein Beamer und ein Projektor sind auch da. Die Jalousien sind runtergelassen, von uns aus kann es losgehen. Nur die Augen des 28-jährigen Präsidenten von Crytek lassen Zweifel aufkommen, dass es wirklich klappt mit der atemberaubenden Präsentation. Denn es ist spät geworden gestern. Nicht zwangsläufig im Büro - laut eigenen Aussagen gehört Crytek zu den Entwicklern, die am meisten von allen feiern (siehe Interview Seite 32). Regelmäßig werden Party-Locations in Frankfurt angemietet, um mit der ganzen Belegschaft ordentlich Gas zu geben. Man bemüht sich, auch nach dem Umzug aus Bayern, wo Mutter Yerli das Team bekochte und die beiden älteren Brüder Avni und Faruk für die Mitarbeiter grillten, eine familiäre Atmosphäre bei Crytek zu pflegen. Doch gefeiert wurde offensichtlich auch in Coburg, wie sich bei bei der Frage nach der Story von "Crysis" zeigt. "Die wird eine viel größere Rolle spielen. Beim Erscheinen von ,Far Cry' haben wir uns noch aufgeregt, dass viele die Geschichte zu platt fanden. Heute denken wir: Mann, sind wir damals betrunken gewesen?", gesteht Cevat. "Crysis", verspricht er, soll den Spieler von Anfang an ins Geschehen ziehen wie ein epischer Hollywoodfilm. Die Geschichte soll ständig neue Fragen aufwerfen, um ihn bei der Stange zu halten. Wer das Spiel unterbricht, soll immer das Gefühl haben, eigentlich weiterspielen zu müssen, um endlich die Antworten zu finden. Doch damit nicht genug, die Handlungen des Spielers werden außerdem auch Einfluss auf die Story haben: "Wir werden mehrere unterschiedliche Handlungsverläufe anbieten." Cevat Yerli spricht mit sanfter Stimme, aber schnell und ausdauernd von dem neuen Spiel. Spricht er gerade nicht, trommelt er unruhig mit den Fingern auf den Tisch. Vermutlich ist es gerade diese Unruhe, die ausgerechnet den jüngsten der drei Yerli-Brüder zum Sprecher des Projekts gemacht hat. Alle drei sind als "Managing Directors" von Crytek eingetragen, wobei Cevat das Design, Avni die Finanzen und Faruk das Marketing betreut. Aber wann immer man etwas über "Crysis" geschrieben werden soll, wird der quirlige Cevat interviewt. Mit seiner Unruhe ist er heute nicht allein. Noch immer nur eine leere Leinwand, ein ausgeschalteter Beamer. Wie sieht sie denn nun im Spiel aus, die viel gerühmte Story? Sie beginnt, so viel ist bekannt, mit dem Absturz eines Asteroiden auf eine tropische Insel. Es entspinnt sich ein Konflikt zwischen Nordkorea und den USA. Obwohl die Koreaner sofort eine Sperrzone um die Insel errichten, senden die Amerikaner Soldaten aus, die in das abgesperrte Gebiet eindringen und Informationen über den Asteroiden gewinnen sollen. Hier übernimmt der Spieler die Rolle von Jake Dunn, einem dieser Soldaten. Cevat Yerli grinst: "Es gab bei uns heiße Debatten darüber, wieso der Held jetzt da reingehen soll. Einige meinten: Nein, wenn das so dargestellt wird, dann würde es so aussehen, als ob wir Amerika schlecht machen wollen. Wir arbeiten hier ja mit einem multinationalen Team, in dem eben auch Amerikaner sind." Tatsächlich wird die internationale Zusammensetzung des Teams großgeschrieben. Überall in den Büroräumen hängen verschiedene Nationalflaggen, Weltkarten oder Mitbringsel der Mitarbeiter aus ihrer Heimat. Menschen aus mehr als 16 Nationen arbeiten am Spiel und der hauseigenen "CryEngine". Da bleiben nationalpolitische Debatten nicht aus. Doch offenbar haben die Yerlis einen zufriedenstellenden Kompromiss für alle Nationen gefunden. Und so pirscht man im ersten Akt des Spiels als US-Soldat durch das Unterholz des Urwalds und kämpft gegen die nordkoreanische Armee. Doch als sich der Asteroid als getarntes Mutterschiff außerirdischer Invasoren entpuppt, sind die verfeindeten Nationen zur Kooperation gezwungen, um zu überleben. Denn die Außerirdischen beginnen, die Erde ihren Bedürfnissen anzupassen, indem sie die Insel und alles Leben auf ihr einfrieren. Diese Technologie der Außerirdischen ist auch für das Gameplay folgenreich: Zum Beispiel kämpft man gegen ein riesiges Spinnenmonster auf einem Flugzeugträger. In Sichtweite liegt ein Raketenwerfer. Aber ehe man ihn erreicht, wird man immer wieder in einen Eisblock eingeschlossen. Und nur durch wildes Rütteln mit der Maus kann man sich wieder befreien. Später im Spiel gelangt man dann selbst an diese Waffe, kann die Gegner einfrieren. Trifft man dann im Kampf ein eingefrorenes Objekt mit einer herkömmlichen Waffe, so zersplittert es in todbringende Scherben. Cevat Yerli erklärt: "Der Eisdschungel war der Ursprung von ,Crysis'. Wir haben mit dem Urwald aus ,Far Cry' rumgespielt und ihn einfach mal eingefroren. Das Szenario hat uns sofort begeistert, so etwas hatte noch keiner von uns jemals gesehen - weder in Spielen noch in Filmen." Apropos gesehen. Noch immer ist die Leinwand weiß. Kein Projektor läuft warm, kein Laptop wird hochgefahren. Langsam fröstelt es uns auch. Das Konzept des "Frozen Paradise", so der damalige Arbeitstitel von "Crysis", weckte das Interesse des weltgrößten Games-Publishers Electronic Arts. Mit der Finanzmacht dieses Partners im Rücken scheint Crytek heute sehr selbstbewusst in die Zukunft zu blicken. Man sieht den Frankfurter Büroräumlichkeiten den Expansionswillen förmlich an. Obwohl alle 120 Mitarbeiter des einstigen Familienunternehmens bereits ihre neuen Arbeitsplätze bezogen haben, werden große Teile der 2500 Quadrameter großen Bürofläche noch immer von leeren Schreibtischen eingenommen. Sie scheinen nur auf neue Mitarbeiter zu warten, die mithelfen, das Paradies einzufrieren. Und die Ideen der Yerlis hören beim Eisdschungel noch lange nicht auf. Etwas ganz Besonderes versprechen sie uns auch in puncto Aliens. Denn zuerst kämpft der Spieler nur gegen die Roboter und Fahrzeuge der Außerirdischen. Die Gestalt der Aliens selbst bleibt bis kurz vor Ende des Spiels ein Geheimnis. Das Warten soll sich allerdings lohnen, ihr Eindruck auf den Spieler laut Cevat bleibend sein: "Wir nennen unsere Außerirdischen nicht ohne Grund ‚Aliens'. Unsere Aliens sollen für den Spielsektor das werden, was Ridley Scotts Aliens für den Film geworden sind. Sie werden anders sein als alles, was man bisher an Außerirdischen aus Spielen kennt." Neben dem Alien-Showdown erwartet den Spieler noch eine weitere Überraschung im letzten Drittel des Spiels: Plötzlich befindet man sich nicht mehr in einem Shooter, sondern liefert sich in einem futuristischen Fluggerät wilde Verfolgungsjagden mit Außerirdischen durch die Wolken. Diese Spielpartien sollen Actionfilmen wie "Top Gun" dramatisch das Wasser reichen können, verspricht Cevat Yerli und zeigt … nichts. Ein sehnsuchtsvoller Blick zur immer noch leeren Leinwand. Gibt es denn gar keine Bedenken, dem doch eher konservativen Shooter-Publikum einen solchen Genremix anzubieten? "Wir sind tatsächlich erst etwas nervös gewesen. Aber die Reaktion auf unsere nicht-öffentlichen Vorführungen war immer die gleiche: ‚Warum habt ihr das nicht auf der E3 gezeigt? Das stellt alles in den Schatten, was dort von ,Crysis' zu sehen war!'" Sollte sich diese selbstbewusste Behauptung bestätigen, dürfte uns noch einiges erwarten. Denn bereits das, was seit der E3 an die Öffentlichkeit drang, sorgte für Aufsehen: Kämpfe gegen gigantische spinnenartige Maschinen, die einen ganzen Flugzeugträger auseinander nehmen und Fluggeräte wie Insekten vom Himmel pflücken. Ein vollständig zerstörbarer virtueller Urwald. K.I.-Gegner, die an geknickten Blättern ablesen können, wo man in welche Richtung vorbeigelaufen ist. Ein Multifunktionsanzug, mit dem der Spieler auf Knopfdruck seine Spielfigur schneller, stärker oder widerstandsfähiger machen kann. Taktische Munition, die explodieren, Feinde anlocken und betäuben kann und sich sogar als Peilsender benutzen lässt. Stille. Warten. Cevat steht auf. Ja! Endlich! Die Vorführung! Nein. Stattdessen beginnt die Verabschiedung. Ohne eine neue Szene aus dem Spiel, ohne eines der wunderbaren Features gesehen zu haben, ziehen wir wieder von dannen. Trotzdem stellt sich neben der Enttäuschung auf dem Rückweg zur Eingangshalle des Frankfurter Studios allmählich Vorfreude ein. Denn wenn uns die Yerli-Brüder eins mit "Far Cry" bewiesen haben, dann dass sie ihre Versprechen zu halten pflegen. Text: Danny Kringiel