Himmlische Hallen
1984 beendete ein Gesetz die Arcade-Ära in Deutschland, bevor sie überhaupt beginnen konnte. Videospielautomaten fristen seitdem ein Schattendasein und gelten als überholt. Dabei sind sie heute noch die größte Herausforderung, die Videospiele zu bieten haben. Unser Special – eine Liebeserklärung.
Arcade-Gaming ist tot. Verdrängt von der Evolution des digitalen Home-Entertainments, überflüssig gemacht von Hochleistungs-PCs und Videospielkonsolen. Wenn überhaupt noch vorhanden, fristen die letzten Automaten ein freudloses Dasein, zu zweit oder dritt zwischen einem verbissen klickernden Heer von Geldspielautomaten, vor denen zweifelhafte Gestalten im muffigen Halbdunkel einer Spielhalle darauf warten, dass endlich die dritte Sonne erscheint. Wer mit leuchtenden Augen von Videospielautomaten spricht, spricht von einer in Deutschland seit zwanzig Jahren vergangenen Zeit. So könnte man denken. Bis man einmal nachts über Hamburgs Reeperbahn schlendert und vor der großen Spielhalle Vegas World die Menschentraube auf dem Bürgersteig sieht. In ihrer Mitte: ein Videospielautomat. Nichts Spektakuläres. Ein Bildschirm, auf dem ein Gesicht zu sehen ist, davor eine gepolsterte Boxbirne. "Real Puncher - Sonic Blastman Returns" heißt der Automat des Arcadegame-Herstellers Taito und steht schon seit 1994 vor Vegas World. Das Spielprinzip: Was die Birne verpasst bekommt, steckt das Gesicht auf dem Schirm ein. Und das ist einiges. Jungs feuern lauthals an, Mädchen lachen und verdrehen die Augen, Passanten bleiben neugierig stehen, während einer vor dem Gerät tänzelt, um sich im nächsten Moment mit seinem ganzen Körper in den Schlag zu legen. Schlägt er hart genug zu, erscheinen virtuelle Risse auf dem Bildschirm - und die Zuschauer jubeln wie bei einem echten Boxkampf. Die Lust an Arcade-Spielen scheint also nicht tot zu sein. Warum nur findet man dann nirgends Automaten? "Deutschland ist ein sehr spezieller Markt", formuliert Paul Simmons, der die Arcade-Abteilung von Sega in Europa betreut, vorsichtig, "wir haben einfach keine Möglichkeit, die Automaten an die richtigen Orte zu bekommen." Denn seit 1984 sind Arcade-Automaten in Deutschland als jugendgefährdend eingestuft, also ab 18. Und damit in ebenjene anonymen Spielotheken verbannt, die so wenig zum Spielen einladen. Wer Anfang der Achtziger seine ersten Videospielerfahrungen noch im Vorraum eines Kinos oder im griechischen Restaurant um die Ecke machen durfte - auf Zehenspitzen, um überhaupt den Schirm sehen zu können -, war von einem Tag auf den anderen zu jung zum Videospielen. So nahm unsere Jugendliebe zu Arcade-Games ein jähes Ende. An "Family Entertainment Center", knallbunte, wild piepsende Freizeitparks voller aufregender Automaten, wie sie in Ländern wie England, USA und Japan gang und gäbe sind, war in Deutschland nicht mehr zu denken. "Pac-Man", "Defender", "Donkey Kong", "Centipede", "Galaga", "Frogger" - all diese Spiele verschwanden aus dem öffentlichen Raum ins Zwielicht der Spielhallen. "In Deutschland Arcade-Automaten zu verkaufen ist, als müsste man Fußball spielen, ohne seine Füße zu benutzen", stellt Simmons trocken fest. Eine Spielhalle wie Vegas World auf der Reeperbahn ist deswegen ein Einzelfall, der seine Existenz allein einer Tatsache zu verdanken hat: Nirgends sonst in Deutschland gibt es so viel Laufpublikum, das beide Voraussetzungen für einen Spielhallenbesuch in sich vereint - vergnügungswillig und volljährig zu sein. So konnte die Geschichte von Videospielautomaten in Deutschland nie eine Geschichte von wirtschaftlichem Erfolg und Verkaufszahlen sein. Sondern war immer eine Geschichte der kleinen Geschichten, die jene von uns heute mit entrücktem Blick erzählen, die als Kinder oder Jugendliche noch das Glück hatten, unbehelligt am Automaten zu spielen. Geschichten wie die von Rüdiger Hennecke. "Wenn meine Mutter es sonntags gut mit mir meinte, bedachte sie mich mit einem Markstück zum Frittenholen. Bis zur Frittenbude hab ich es auch immer geschafft - und bin trotzdem jedes Mal mit leerem Magen nach Hause gegangen. Denn in der Frittenbude stand ein ,Galaga'-Automat, der Sonntag für Sonntag meine Markstücke verschlang." Heute steht ein "Galaga"-Automat im Wohnungsflur des 37-Jährigen. Ein Original, versteht sich. "Ich habe jahrelang recherchiert, bevor ich ihn endlich gefunden habe. Ein Sofort-Kauf-Angebot bei Ebay USA für 880 Dollar. Hinzu kamen dann allerdings noch Transport und Zoll. Insgesamt hat er rund 1500 Euro gekostet." Eine Investition, die sich für Hennecke auf jeden Fall gelohnt hat. "Arcade-Automaten sind ein gesellschaftliches Ereignis. Regelmäßig steht ein Haufen Kumpel bei mir im Flur. Alle rufen: ,Lass mich mal! Lass mich mal!' Genau wie damals." Ein Denkmal in etwas anderen Dimensionen haben die Mitglieder von Retro Games e. V. aus Karlsruhe ihrer Leidenschaft gesetzt. Besucht man die Ausstellungsräume des Vereins, wird man von einem wahren Arcade-Inferno empfangen. Rund vierzig Automaten, von Uraltmodellen wie "Gunfight" von 1975 bis hin zu neueren Spielen wie Segas "Out Runners" von 1993, blinken und piepsen dem Besucher entgegen. Durch die Arbeit von Retro Games e. V. ist im Westen von Karlsruhe etwas entstanden, was es so in Deutschland eigentlich nie gab: eine echte Arcade-Halle. Dabei sind die Ausstellungsgegenstände keine eitel gehüteten historischen Artefakte, sondern erfüllen noch immer den Zweck, zu dem sie geschaffen wurden. Jeden Samstag ab 21 Uhr ist Arcade-Nacht. Dann kann jeder vorbeikommen und bis spät in die Nacht kostenlos spielen. "Es geht uns darum, die Automatenkultur zu erhalten. Um diese Kultur begreifen zu können, muss man die Maschinen anfassen", erklärt Jörg Lennhof. "Automaten spielen ist etwas Körperliches." Dem kann auch Rüdiger Hennecke zustimmen. Als er den "Galaga"-Automaten vom Lieferwagen vor dem Haus in den vierten Stock seiner Wohnung schaffen musste, führte das zu einem Menschenauflauf. Zusammen mit drei Möbelpackern hievte er das 150 Kilo schwere Monstrum in seine Wohnung. Oben angekommen dann ein banger Moment: Passte der gefundene Schatz überhaupt durch den Türrahmen? Mit Millimeterarbeit schaffte er den Automaten dann doch in die Wohnung. Einen Automaten kriegt man nicht so einfach nach Hause wie eine Konsole oder einen Computer. Überhaupt: Im Vergleich zu Arcade-Automaten sind PCs brave Arbeitsgäule, die ab und an zu einem Spielchen einladen. Und Konsolen bescheidene Haustiere, die sich klein und multifunktional beim Fernseher anbiedern, um einen Platz in der Wohnung zu ergattern. Arcade-Automaten dagegen sind aufsässige Monster, die den Spieler provozieren. Sie wollen gefunden werden, wollen in ihren dunklen Spielhallen-Höhlen ihren Entdecker erniedrigen. Sie machen wütend, bringen ins Schwitzen, lassen mit ihren fünfmarkstückgroßen Buttons und den klickenden Knüppeln Arme erlahmen und Emotionen aufflammen. Sie bringen einen dazu, sie zu bearbeiten, zu traktieren, sich gegen sie zu werfen, sie zu treten - und stecken all das völlig unbeeindruckt weg. Und wenn der Credit dann aufgebraucht ist, schicken sie den Spieler und seine Freunde mit einem kühlen "Game Over" fort, geschlagen und gedemütigt. Das ist Arcade-Fieber. Wer einmal gepackt wurde, wird schwer wieder davon loskommen. Trotzdem liefen Heimkonsolen und -computer spätestens seit dem Erscheinen des C64 den Automaten weltweit immer mehr den Rang ab. Zwar war die Spielhalle für Optikfetischisten bis in die späten neunziger Jahre erste Anlaufstelle, die Grafikleistung der Arcade-Monolithen bis zum Erscheinen der PS2 den Heimversionen bei weitem überlegen. Doch vor den heimischen Bildschirmen gedieh während dieser Zeit eine ganz andere Spielkultur. Dort konnten die Spieler so lange zocken, wie sie wollten, durften ausufernde Abenteuer erleben in Spielen wie "Monkey Island" oder sich in "Sim City" und anderen Simulationen komplexen und langwierigen Herausforderungen stellen. Arcade-Automaten dagegen, egal ob Lightgun-Shooter, Racer oder Fußballspiel, waren dazu verdammt, den immer gleichen Regeln zu folgen. Erstens: Sie müssen für jeden sofort verständlich sein. Zweitens: Sie müssen sofort Spaß machen, damit man, drittens, bereit ist, in kurzen Abständen neues Geld einzuwerfen. Angesichts dieser Vorgaben konnten Arcade-Automaten den neuen Trend Spieltiefe nur auf eine Art kontern: durch immer ausgefallenere Designs. Autorennspiele wurden mit bockenden Hydrauliksitzen aufgemotzt, bei Tanzspielen musste tatsächlich getanzt werden, und wer auf dem Bildschirm Skateboard fuhr, stand auch in der Realität davor auf einem Deck. Aufhalten ließ sich der Niedergang der Arcade-Automaten damit nicht. Nina Völkner, seit der Eröffnung von Vegas World 1989 dort angestellt, erinnert sich: "Am Anfang war's immer brechend voll. Da standen wir mit drei Leuten zum Geldwechseln an den Kassen und sind fast wahnsinnig geworden. Bis Mitte der Neunziger lief es noch ziemlich gut, aber dann wurde es immer leerer." Mehr und mehr Videospielautomaten wurden ausgemustert. Ihren Platz nahmen Glücksspielgeräte und reale Sportspiele wie Air-Hockey oder ein Basketballspiel ein. Doch auch heute findet sich unter den rund 50 Automaten noch die eine oder andere Perle. Zum Beispiel "Daytona USA", wo vier Spieler sich in die Rennsitze schwingen und gegeneinander fahren können. Oder das Tanzspiel "In The Groove 2" und der Prügler "Tekken Tag Tournament". Betritt man Vegas World durch den blinkenden Eingang, empfängt einen noch immer ein amtliches Piepskonzert. Mit dem Inferno, das eineinhalb Dekaden zuvor diese Räume erfüllt haben muss, hat das allerdings nur noch wenig zu tun. "Früher standen hier die Videospielautomaten dicht an dicht", erinnert sich Nina Völkner. Ob Vegas World trotzdem noch immer "Europas größte Spielhalle" ist, wie es in Leuchtschrift über dem Eingang steht, weiß die Kassiererin auch nicht. "Wenn's dransteht, wird's wohl stimmen." Harald Kesting bezweifelt das. Er ist Import Sales Manager bei Gauselmann, Deutschlands größtem Automatenvertrieb und Betreiber der Merkur-Spielotheken. "Spielhallen", dieses Wort gefällt ihm allerdings gar nicht. Lieber ist es ihm, wenn man von "Spielstätten" spricht. "Das wertet die Sache doch ein bisschen auf." Videospielautomaten, Geldgewinnspielgeräte, so genannte Touchscreenautomaten, auf denen man Dame, Mühle und anderes per Druck auf den Schirm spielen kann, Geldwechselautomaten und Flipper - Gauselmann hat ein breit gefächertes Produktportfolio. Doch auch dort haben klassische Arcade-Automaten eher Exotenstatus: "Während Videospielautomaten vor zehn Jahren noch 20 Prozent unseres Umsatzes ausgemacht haben, sind es heute nur noch fünf Prozent." Doch Kesting hofft, dass die Spielhallen in den nächsten Jahren wieder etwas bunter werden. Denn am ersten Januar dieses Jahres ist ein Verbot so genannter Fun-Games in Kraft getreten. Fun-Games sind Automaten, die Gewinnmarken statt Geld ausschütten. Da per Gesetz nur ein Geldspielgerät pro zwölf Quadratmeter und höchstens zwölf Geldspielgeräte pro Spielhalle erlaubt sind, schlugen viele Spielhallenbesitzer dem Staat ein Schnippchen. Sie möblierten ihre Spielotheken mit den Fun-Games, tauschten den Spielern ihre Fun-Game-Gewinnmarken jedoch in Bargeld um. Dieser Praktik und den Fun-Game-Automaten allgemein wurde nun ein Riegel vorgeschoben. Ob die Spielhallenbesitzer die von den Fun-Games hinterlassenen Leerstellen allerdings mit Videospielautomaten füllen, wie Kesting es sich erhofft, bleibt abzuwarten. Mal abgesehen davon, dass wir ja im Grunde genommen auch etwas anderes wollen als ein paar mehr Automaten in Spielotheken, die die meisten von uns eh nicht betreten. Nein, wie wollen etwas anderes: Spielautomaten in Kinofoyers, Kneipen und Pommesbuden. Richtige Family Entertainment Center, Arcade-Hallen für die ganze Familie statt trister Spielhallen. Und der Weg dafür ist eigentlich schon lange frei. Denn bereits 2003 ist eine Änderung des Jugendschutzgesetzes in Kraft getreten, mit der die Arcade-Spiele von ihrer 19 Jahre währenden Jugendgefährdung freigesprochen wurden. Seitdem können Automaten, die von der Automatenselbstkontrolle, kurz ASK (ihre Arbeit entspricht der der USK), ab sechs Jahren freigegeben sind, überall aufgestellt werden. Warum also findet man die Automaten trotzdem immer noch nur in Spielhallen? Ein Grund dafür sind die Preise der Geräte. "Natürlich hoffen wir, dass Videospielautomaten im Stellenwert wieder höher kommen. Aber ein Doppelfahrsimulator wie ,Outrun 2' ist sehr hoch- preisig", schildert Kesting das Problem. 10000 bis 15000 Euro für aufwendigere Geräte sind nicht ungewöhnlich. Trotzdem gibt es immer mehr Spielhallen, die einen Arcade-Bereich abtrennen und für Kinder und Jugendliche zugänglich machen. Zum Beispiel das Giga-Center in Köln. "Die haben einen Bereich von ungefähr 180 oder 200 Quadratmetern abgetrennt. Da stehen Fahrsimulatoren, Sportspielgeräte und Tanzmaschinen. Da dürfen Kinder rein", erklärt Kesting. Arcade-Gaming ist also nicht tot. Im Gegenteil. Der Weg ist frei für Family Entertainment Center nach internationalem Vorbild. Oder für Kneipen oder Kinos, die sich Automaten hinstellen wollen. So wie die Bowlingbahn in Leipzig, neben dem Messegelände. Nur ein paar hundert Meter entfernt von dem Ort, wo Jahr für Jahr die Zukunft der Videospiele gefeiert wird, steht ein Schrein für ihre Anfänge: der "Ferrari F355"-Rennsimulator, eine geschlossene Kabine, die mit drei Bildschirmen Rundumsicht vorgaukelt. Deren Surround-System mit Lautsprechern im Schalensitz die Illusion schafft, tatsächlich einen italienischen Zwölfzylinder und nicht Dartscheibe und Billardtisch im Heck zu haben. Ein Bremspedal, das mit aller Macht durchgetreten werden will, um den Boliden zum Stehen zu bringen. Kurz: ein Videospiel, das nicht gespielt, sondern besiegt werden will. Was jetzt noch fehlt, sind Menschen, die sich dieser Herausforderung stellen. Menschen wie der Automatenbesitzer Rüdiger Hennecke - oder die Menschentraube, die sich regelmäßig um den "Real Puncher" auf der Reeperbahn in Hamburg bildet. Text: Benjamin Maack, Fotos: Jim Miller