Totschlag-Argumente
Medienwirkungsforschung – hinter diesem etwas sperrigen Begriff verbirgt sich eine simple Frage: Was passiert mit Menschen, wenn sie zum Beispiel Fernsehen gucken oder videospielen?Eine Frage, die vor allem seit dem Amoklauf von Erfurt häufig gestellt wird – und die eine ganze Meute von Kommunikationswissenschaftlern, Psychologen, Erziehungswissenschaftlern, Medienwissenschaftlern und neuerdings selbst Neurobiologen und Kriminologen zu beantworten versucht. Damit auch ihr mitreden könnt, hier sechs wichtige Wirkungstheorien verständlich erklärt
>Katharsistheorie
Eine der ältesten Medienwirkunstheorien stammt von Aristoteles. Sie geht davon aus, dass der Mensch von Natur aus gewalttätige Triebe hat. Diese könne er aber nicht nur durch eine handfeste Keilerei, sondern – hört, hört! – genauso gut auch durch das Betrachten von Gewaltdarstellungen ausleben. Der Zuschauer, so der griechische Philosoph, erfahre bei dieser Betrachtung eine innere Reinigung (Katharsis). Aller- dings müssen der Film oder das Theaterstück ganz bestimmten Gestaltungsregeln folgen, die beim Zuschauer systematisch Angst und Mitleid erregen. Die Katharsisthese wird vor allem von Gewaltspielfans zur Verteidigung ihres Hobbys herangezogen. Dummerweise folgen aktuelle Games aber weder den von Aristoteles vorgeschlagenen Gestaltungsprinzipien, noch konnte wissenschaftlich belegt werden, dass der von Aristoteles angenommene Reinigungseffekt tatsächlich stattfindet.
Fans dieser These sagen: „Was ist schon so verkehrt daran, in ‚Manhunt‘ Menschen von hinten mit Plastiktüten zu ersticken? Da kann man doch mal richtig Dampf ablassen und ist im richtigen Leben umso ausgeglichener!“
Du weißt, die Theorie stimmt, wenn … nach fünf Tagen „Burnout Revenge“ der Kühlschrank endlich wieder aufgefüllt werden muss. Auf dem Weg zum Supermarkt passiert es: An einer Kreuzung nimmt ein Fahrer dir die Vorfahrt und brettert in die Flanke deines gerade angezahlten Neuwagens. Du steigst aus, betrachtest prüfend den Einschlag und den Radius der herumliegenden Glassplitter, klopfst dem Mann schließlich anerkennend auf die Schulter und gratulierst ihm zu dem respektablen Crash.
>Habitualisierungstheorie
Nach dieser These führen starke Reize in Medien zu einer Gewöhnung (Habitualisierung). Mit anderen Worten: Gewaltszenen in Computerspielen machen den Spieler unempfindlicher – auch gegenüber realer Gewalt. Irgendwann kommt einem das alles ganz normal vor, und man benötigt immer krassere Gewaltspiele, um überhaupt noch etwas zu spüren. Der Nachfrage folgend werden daraufhin von den Entwicklern immer gewalttätigere Titel angeboten, woraufhin die Zocker noch weiter abstumpfen und nur noch viel extremere Spiele wollen. Und so weiter.
Anhänger dieser These sagen: „Ist doch kein Wunder, wenn in der U-Bahn einer verprügelt wird und das keinen mehr kümmert: Die sind doch alle schon von der Gewalt in diesen Killerspielen abgestumpft.“
Du weißt, die Theorie stimmt, wenn … du abends vorm Zubettgehen immer noch kurz eine Runde „Doom 3“ spielst – zur Entspannung, weil du sonst nicht einschlafen kannst.
>Excitation-Transfer-Theorie
Dieser Theorie zufolge schaffen Darstellungen von Gewalt, Sex oder Humor einen unspezifischen Zustand der Erregung (Excitation) beim Betrachter. Jemand, der gerade eine Komödie gesehen hat, ist demzufolge nicht nur leichter zum Lachen zu bringen, sondern lässt sich auch leichter zu sexuellen oder gewalttätigen Handlungen verleiten.
Anhänger dieser These sagen: „Natürlich steigen die Gewalttätigkeiten unter Jugendlichen! Die sind doch von ihren Baller- und Sexspielchen alle so aufgekratzt, dass sie aus dem kleinsten Anlass gleich explodieren!“
Du weißt, die Theorie stimmt, wenn … du „Mortal Kombat: Deception“ gegen einem Kumpel spielst. Nachdem er dich zum x-ten Mal mit einem blutigen Finishing Move zerlegt hat, überkommt es dich: Deine plötzliche Umarmung vermag er noch als sportliche Geste zu verstehen, aber als du beginnst, sein Hemd aufzuknöpfen, stößt er dich entsetzt von sich. Als er dir gerade in drastischen Worten schildert, was er dir antun werde, wenn du dich nicht zusammenreißt, brichst du dummerweise in lautes Gelächter aus. Später am Abend, als die Schmerzen allmählich nachlassen, zappst du durch die Fernsehkanäle und bleibst bei einer Komödie hängen. Plötzlich verspürst du großes Verlangen nach einer Runde „Mortal Kombat“. Du rufst deinen Kumpel an …
>Suggestionstheorie
Die mit Abstand am häufigsten gegen Videospiele zu Felde getragene Wirkungstheorie: Sie geht davon aus, dass die Beobachtung medialer Darstellungen beim Zuschauer zur Nachahmungstat führt. Also: Der Jugendliche spielt „Doom“ und will daraufhin töten. So einfach ist das. Bizarr: Die Suggestionstheorie wird in dieser simplen Form von Wirkungsforschern kaum noch vertreten. Dafür wird in der öffentlichen Debatte umso häufiger mit ihr hantiert.
Das sagen ihre Anhänger: „Nachdem diese Kinder den ganzen Tag in ihren Gewaltspielen durch dunkle Korridore gerannt sind, um Menschen zu erschießen, haben sie das einfach in die Realität umgesetzt und sind an ihrer Schule Amok gelaufen.“
Du weißt, die Theorie stimmt, wenn … du dir nach einer Partie „Super Mario“ einen Schnurrbart ins Gesicht klebst, Latzhosen anziehst und in der Fußgängerzone über Passanten zu springen versuchst. Von den vielen Stürzen und der Flucht vor erbosten Spaziergängern erschöpft machst du dich anschließend in der Gemüseabteilung eines Supermarktes mit Heißhunger über die Champignons her, um so deine Größe zu verdoppeln.
>Kultivierungstheorie
auch „scary world theory“ genannt. Durch ständige Darstellung von Gewalt in den Medien beginnt der Zuschauer die allgemeine Gefährlichkeit und Gewalttätigkeit der Gesellschaft zu überschätzen. Ein übermäßiges Gefühl der Bedrohtheit ist die Folge.
Das sagen ihre Anhänger: „Es muss doch keinen wundern, dass immer mehr Minderjährige mit Schusswaffen herumlaufen. Schließlich lernen die doch schon in ihren Videospielen, dass überall jederzeit auf sie geschossen werden könnte. Da muss man doch einen Verfolgungswahn entwickeln.“
Du weißt, die Theorie stimmt, wenn … du dich im öffentlichen Raum nur noch rennend oder mit ständigen Sprüngen bewegst, um ein schlechteres Ziel abzugeben. Schauen Leute dich irritiert an, rennst du so lange um sie herum, bis du sicher sein kannst, dass ihnen die Munition ausgegangen ist. Das Treppenhaus zu deiner Wohnung durchquerst
du nur noch robbend, um nicht von den Bewegungssensoren der unsichtbaren Haftminen erfasst zu werden, und wenn dich ein Nachbar fragt, ob alles okay sei, hältst du ihm deinen Kugelschreiber an die Halsschlagader und zischst ihm ins Ohr, er solle nicht mal daran denken, den Alarm auszulösen.
>Inhibitionstheorie
Glaubt man ihr, entstehen bei Beobachtern von Mediengewalt Angst und Schuldgefühle. Der Zuschauer sieht zum Beispiel die schrecklichen Folgen einer Messerstecherei und wird dadurch eingeschüchtert. Dadurch tritt eine Hemmung (Inhibition) seiner eigenen Aggressivität ein – besonders dann, wenn die negativen Folgen aggressiven Handelns (zum Beispiel Strafe) deutlich gezeigt werden.
Das sagen ihre Anhänger: „Ja, der Spieler kann in ,GTA‘ unschuldige Passanten angreifen. Aber sobald er das tut, ist die Polizei auch schon da. Und setzt er auch gegen die noch Gewalt ein, kommt das Militär. Je mehr Gewalt er einsetzt, umso härter wird er bestraft. Wenn er dann in seinem realen Leben jemanden verprügeln will, hält ihn die Angst vor Bestrafung durch die Polizei zurück.“
Du weißt, die Theorie stimmt, wenn … ein betrunkener Halbstarker dich und deine Freundin eine geschlagene halbe Stunde anpöbelt, beleidigt und zuletzt sogar anspuckt – und du noch immer zögerst, ihm eine zu scheuern, weil du nicht die ganze Mission noch einmal von vorne spielen willst.
Text: Danny Kringiel, Illustration: ITF Grafik Design
Tags:
Feature,
GEE 21,
Medienwirkungsforschung,
Totschlag-Argumente
Es wäre nett und v.a. sehr hilfreich, wenn ihr zumindest das Erscheinungsjahr der Texte angeben würdet. Dann zitiert es sich leichter ;)