Mehr Lebensenergie
Eine ganze Generation von Jugendlichen sitzt vor dem Computer. Doch nur eine Institution kümmert sich um die Nebenwirkungen: das Wichernhaus in Boltenhagen. Wir waren vor Ort
Nicht viel los am Strand von Boltenhagen, einem kleinen Kurort an der Küste von Mecklenburg. Einige Rentnerpärchen mit Hut und Mantel. Hundebesitzer in Windbreakern. Ein trüber Aprilmorgen, der Horizont versumpft in einem farblosen Mischmasch, Wolken und Ostsee bilden eine graue Wand direkt hinter dem Ufer. Eine Gruppe von Kindern und Jugendlichen stapft mit hochkrempelten Hosenbeinen und zusammengebissenen Zähnen durch die frühlingskalte See. „Wassertreten“ nennt sich das und ist Teil einer Therapie gegen Computerspielsucht. Am Strand warten bunte Handtücher mit Comicfiguren und Pferdeköpfen und eine Betreuerin vom Wichernhaus. Das Wichernhaus ist ein unscheinbares, rotes Backsteingebäude, einen Steinwurf vom Strand entfernt. Es ist ein Kurheim für Kinder und Jugendliche. Das einzige in ganz Deutschland, das unter anderem auch ein spezielles Kurkonzept für ein weit verbreitetes Phänomen anbietet: Medienabhängigkeit. Der 15-jährige Christopher ist seit zwei Wochen hier. Der schlaksige Junge lässt sich in den Sand plumpsen und trocknet sich mit einem Simpsons-Handtuch die vom kalten Wasser roten Beine ab. Seinen ersten Computer hat Christopher zum elften Geburtstag von seinen Eltern bekommen – damit er später bessere Chancen im Beruf hat. Anfänglich konnten ihm die Eltern noch Sachen erklären, setzten sich mit ihm vor den Computer und lernten gemeinsam. Doch schnell wurde Christopher zu einem regelrechten PC-Profi, die Eltern konnten da nicht mithalten. Und so verbrachte er immer mehr Zeit allein vor dem Bildschirm, am Ende bis zu 15 Stunden am Tag. Essen und Schlafen wurden dem PC untergeordnet. Freunde traf er schon lange nicht mehr und sogar zur Schule ging Christopher wochenlang nicht. „Meine Eltern arbeiten beide den ganzen Tag und haben nichts mitgekriegt.“ Dann vor einigen Wochen kam der Brief von der Schulleitung und damit der große Knall. Christophers Mutter wusste sich nicht mehr zu helfen und warf den Computer aus dem Fenster. Nun ist Christopher im Wichernhaus und lernt vier Wochen lang, wie man seine Tage anders gestalten kann. Statt heruntergeladene Zeichentrickserien zu gucken, hilft er den Jüngeren beim Malen und Basteln. Statt Videospielen zockt er „Runde“ an der Tischtennisplatte oder geht mit anderen aus der Gruppe an den Strand; statt sich vor dem Bildschirm eine Tüte Chips und Cola reinzudrücken, lernt er selber zu kochen und sich ausgewogen zu ernähren. Entwickelt wurde das Therapieprogramm von der Psychologin Simone Trautsch. Sie sitzt in einem der Körbstühle in ihrem Gesprächsraum. Mit ihrem rosaroten Jäckchen und ihrer perfekt sitzenden Frisur sieht sie gar nicht aus wie eine Revolutionärin. Ist sie aber. Wo Professoren Jahre an der Entwicklung und Forschung einer streng wissenschaftlichen Therapiemethode herumdoktern würden, entwickelte sie in wenigen Monaten ein schlüssiges Therapieprogramm für medienabhängige Kids. Sie ist Pragmatikerin, durch und durch. „Ich war ein bisschen blauäugig und habe einfach mal im Internet nachgeschaut. was an Ideen da ist.“ Aber da war nichts, nirgendwo. Denn vor zwei Jahren gab es auf der ganzen Welt kein auf dieses Problem zugeschnittenes Therapiekonzept. Deswegen ist das Wichernhaus heute auch eine Sensation, über die Medien auf der ganzen Welt berichteten. Zur Therapie gehören neben den Sport und Ernährungslehre auch Projekte wie die Theater-AG. „Das Kernstück der Therapie ist es, die Kinder und Jugendlichen wieder zu den Angeboten des realen Lebens zurückzuführen“, erklärt Frau Trautsch, „in der Theater-AG zum Beispiel geht es darum, sie selbstständig ihre Interessen und ihren Platz in einer Gruppe entdecken zu lassen. Bin ich eher der Regisseur, der Schauspieler oder macht es mir am meisten Spaß, im Hintergrund zu arbeiten und Kostüme und Bühnenbild zu gestalten?“ Außerdem haben viele der kleinen Patienten durch das ständige Starren auf den Schirm das Gefühl für ihren Körper verloren. Im Wichernhaus sollen sie es zurückgewinnen. Zum Beispiel durch das Wassertreten am Morgen oder einem Fühlpfad hinter dem Haus, bei dem man barfuß und mit verbundenen Augen über Steine, Sand und Gras stolpern kann. Dort gibt es auch einen Therapiegarten, den die Kinder selbst gestalten können. Allerdings wirken die Beete zurzeit etwas verwaist. Wahrscheinlich, weil Christopher und die anderen in ihrer spärlichen Freizeit lieber das Dorf und besonders den Supermarkt um die Ecke unsicher machen. Sogar ein Computer zur gemeinsamen Nutzung ist Teil der Therapie. Und nicht mal Videospiele sind ganz verboten. Wer einen Gameboy mitgebracht hat, darf eine halbe Stunde am Tag damit spielen. Frau Trautsch erklärt: „Ich habe für die Therapie Erfahrungen aus meiner langjährigen Arbeit mit essgestörten Kindern verwertet, weil das eine verwandte Problematik ist. Man kann in beiden Bereichen nicht mit Abstinenz arbeiten. Denn wie das Essen gehört die Nutzung von Medien zu unserem beruflichen und privaten Alltag dazu.“ Vielmehr geht es darum, den Computer-Kids einen gesunden Umgang mit dem PC zu vermitteln. „Ein Maß zu finden, mit dem sich der Jugendliche gut fühlt“, sagt Frau Trautsch. Denn die meisten Kinder leiden auch extrem unter dem übermäßigen Computerkonsum. Das beginnt bei körperlichen Beschwerden wie Kopfschmerzen, Haltungsschäden, Konzentrationsschwäche, Fettleibigkeit und manchmal auch Unterernährung, wenn die Spieler vor dem Computer schlichtweg das Essen vergessen. Weitere Nebenwirkungen: Konzentrationsschwächen, gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus und Albträume. Irgendwann kommen dann schulische und familiäre Probleme hinzu, wenn die Leistungen im Unterricht abfallen oder der Jugendliche, wie im Fall von Christopher, einfach gar nicht mehr zur Schule geht. Vielleicht ist dieser lebensnahe Therapieansatz auch der Grund dafür, dass das Wichernhaus so überhaupt nicht an eine Klinik erinnert. Der Boden im Eingangsbereich ist strandsandig. In Fächern an der Wand stehen abgewetzte Turnschuhe und jede Menge Gummistiefel. Den Gang nach links geht es ins Therapiezimmer zu Frau Trautsch und ihren Korbstühlen, nach rechts in den Wohntrakt. In den Vierbettzimmern stehen zwei Etagenbetten, zwei Schränke und ein Tisch mit zwei Stühlen. Jugendherbergsatmosphäre. Gerade ist diese besondere Herberge allerdings ziemlich leer, nur ein Dutzend der 60 Betten sind belegt. Doch Bedarf an Therapieplätzen gibt es genug. Allerdings bewilligen nur wenige Krankenkassen eine Kur aufgrund von Medienabhängigkeit, unter einer ausgeprägten Ernährungsstörung oder körperlichen Defiziten wegen Bewegungsarmut geht bei den meisten Krankenkassen nichts. Die meisten Therapieplätze müssen von Ute Garnew, der Geschäftsführerin der Evangelischen Kur- und Erholungsstätten Boltenhagen zu denen auch das Wichernhaus gehört, kräftig subventioniert werden, weshalb sie auch Händeringend nach Sponsoren sucht. Doch auch die pädagogische Unterstützung für die Eltern scheint in vielen Familien bitter nötig. „Die Eltern kennen sich nur selten mit dem Computer aus. Sie sind nur erstaunt und stolz, wie leicht dem Sohn oder der Tochter der Umgang mit dem neuen Medium von der Hand geht“, erklärt Trautsch. Und mit dieser Einschätzung stehen sie mitnichten alleine da. Manche Eltern, die sich an das Wichernhaus wenden, haben eine regelrechte Odyssee hinter sich. Waren bei Ärzten, Psychologen und Lehrern die ihnen alle nur erklärten, dass ihr Kind außergewöhnlich interessiert sei und dass sie diese Begabung unbedingt weiter fördern müssten. Aufklärung scheint also das oberste Gebot: glaubt man einer Studie des psychologischen Instituts der Charité Berlin an der 323 Berliner Sechstklässler teilnahmen, sind 9,3 Prozent nach den Kriterien der Studie abhängig von Computern und Konsolen. Aber macht der Computer die Jugend tatsächlich süchtig? Die Studie geht mit diesem Begriff vorsichtig um. Da es noch keine offizielle Klassifikation für den übermäßigen Gebrauch des Computers gibt, teilt sie die untersuchten Kinder nur in „exzessiv computerspielende Kinder“ und „nicht exzessiv computerspielende Kinder“ ein. Für Dr. Michael Schulte-Markwort, Direktor der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, ist der Gebrauch von Computern eher Ausdruck für andere Probleme im richtigen Leben. „Diese Ausdrucksformen passen sich natürlich dem Zeitgeist an. Vor einigen Jahren wären es noch die exzessiv fernsehenden Kinder gewesen, einige Jahre davor vielleicht die zurückgezogenen Eigenbrötler. Heute sind es eben die exzessiv computerspielenden Kinder.“ Die siebenjährige Tabea aus dem Wichernhaus gehört auch zu ihnen. Wenn gerade keine Gemeinschaftsaktivität ansteht, verbringt sie die meiste Zeit in der Bastelecke und malt. Ihre Haut ist rau, die Augen hinter den dicken Brillengläsern sind immer gerötet. Tabea hat „multiple Allergien“. Manchmal darf sie wochenlang nicht aus dem Haus, bekommt nur Astronautennahrung. Ihr größter Wunsch: „Mal auf einem Pferd reiten.“ Doch das geht nicht, denn in der Nähe von Tieren spielen die Histamine in ihrem Körper verrückt. So verbrachte sie zuhause die meiste Zeit vor Fernseher, Gameboy und Gamecube. Dort konnte sie alles erleben, was sie im richtigen Leben nicht machen durfte. Sogar ausreiten – in einem „Barbie“-Videospiel. Der Bildschirm war für sie das Fenster zu einer anderen Welt. „Als ich Tabea in der Gesprächstherapie nach ihren Freunden fragte, zählte sie zehn, zwanzig Namen auf. Es hat ein wenig gedauert, bis ich herausgefunden habe, dass das alles Charaktere aus ihren ‚Pokémon‘-Spielen waren“, berichtet Simone Trautsch. Kindern wie Tabea wird auf der Kur wieder Lust auf echte Freunde gemacht. Die Entscheidung, Freunde, Familie und sein richtiges Leben hinter sich zu lassen, hat aber nur selten so drastische Ursachen wie bei Tabea. Schlechte Noten, Probleme mit den Eltern, Hänseleien auf dem Schulhof, Ärger mit Freunden oder einfach nur Langeweile sind für viele Kinder und Jugendliche Grund genug für den Rückzug vor den Computer. Er ist eben immer da, wenn man ihn braucht. Ein zuverlässiger Freund und Spielgefährte. Fast 80 Prozent aller Kinder und Jugendlichen haben einen Computer in ihrem Zimmer, beinahe 60 Prozent eine Konsole. „Wie alle Menschen suchen auch Kinder immer nach einem Weg, sich gut zu fühlen“, erklärt Simone Trautsch. Da sind die schnellen Erfolgserlebnisse am Computer genau das Richtige. Das Gehirn belohnt den Spieler mit Dopamin. Dieser Botenstoff wird im realen Leben dann ausgeschüttet, wenn wir für eine Leistung positive Rückmeldung erhalten, er erzeugt ein Glücksgefühl. Und da der Computer in Form von Punkten, besiegten Gegnern und gemeisterten Levels praktisch ständig belohnt, bekommt der Spieler eine richtige Dopamin-Dusche gegen vergleichsweise geringen Aufwand. Da kann das Lernen für eine gute Schulnote natürlich nicht mithalten. Aber was können Eltern tun, um ihren Kindern beim richtigen Umgang mit dem Computer zu helfen? Manchmal sind die einfachsten Methoden die besten: Wolfgang Fehr (siehe auch Interview Seite 66), Leiter der Fachstelle Medienpädagogik und Jugendmedienschutz vom Jugendamt Köln, hat in seiner Arbeit noch nie ein Kind oder einen Jugendlichen erlebt, bei dem nicht andere Angebote das Computerspiel regelmäßig in den Hintergrund gedrängt hätten. „Man muss sich einfach fragen, was die Kinder und Jugendlichen in Computerspielen suchen. Dann kommt man ganz schnell darauf, dass sie in den Spielen relativ einfach positive Rückmeldungen bekommen. Gibt man ihnen diese Möglichkeit auch in der realen Welt, verliert der Computer schnell an Reiz.“ Die Fachstelle Medienpädagogik veranstaltet deswegen Geländespiele und bietet Medienwochenenden für Eltern und Kinder an. Bei den meisten Kindern reicht aber auch schon, wenn sich die Eltern mehr mit ihren Kindern beschäftigen, öfter mal „Gut gemacht“ sagen. Traurig, aber wahr. Und wenn alle Stricke reißen, schicken wir die Kinder einfach bei Frau Trautsch vom Wichernhaus in die Reparatur? Die Psychologin lacht freundlich, der Korbstuhl knartscht. „Die Eltern haben nach vier Wochen nicht einen völlig anderen Jugendlichen vor sich. Wir helfen dem Kind nur, seine Probleme zu erkennen und einzusehen, dass ihm der übermäßige Computer-Konsum schadet. Im besten Fall machen die vier Wochen hier Lust darauf, den Alltag wieder in Angriff zu nehmen.“ Und weil die Unterstützung der Eltern bei diesem Vorhaben die größte Rolle spielt, ist im Therapiekonzept die vierte Woche des Aufenthalts als Elternschulungswoche vorgesehen. Dort lernen die Erwachsenen in Seminaren und Einzelgesprächen, die Probleme ihrer Kinder besser zu verstehen und ihnen bei der Lösung behilflich zu sein. Das Abendessen im Wichernhaus ist vorbei, die Kids stürmen aus dem Essenssaal. Freizeit für Christopher, Tabea und die anderen. Schnell ist Tabea in der Bastelecke. Vor dem Schlafengehen will sie noch ein Bild für ihre Mutter fertig malen. Christopher bleibt lieber noch draußen. Das erste Mal heute reißt die graue Wolkendecke auf und die Sonne wirft ein paar spärliche Frühlingsstrahlen in den Garten des Wichernhauses. Ein guter Grund, noch mit ein paar anderen Jungs „Runde“ an der Tischtennisplatte zu spielen. Ob die Computer-Kids durch die vier Wochen im Wichernhaus auf Dauer der Versuchung widerstehen können, sich vor dem Alltagsstress in virtuelle Welten zu flüchten, ist aber leider immer ungewiss. Die Charité Berlin erforscht dies gerade in einer Langzeitstudie in Zusammenarbeit mit dem Wichernhaus. Simone Trautsch lächelt zuversichtlich. „Manchmal melden sich Eltern, um mir ihr Leid zu klagen. Aber viele melden sich auch, um sich bei uns zu bedanken, wie viel sich in nur vier Wochen in ihren Kindern bewegt hat.“ Christopher zumindest hat sich schon jetzt fest vorgenommen, weniger Zeit am Computer zu verbringen und lieber einem Tischtennisverein beizutreten. Und auf Tabea wartet eine nagelneue Packung Filzstifte, wenn sie nach Hause kommt. Text: Benjamin Maack, Fotos: Petra Kohl