Guter Netzer
Spider-Man gibt es schon ziemlich lange. Als Superheld sowieso, aber auch als Computerspiel oder Kaffeetasse. Doch bisher machte er nur im Comic und dem letztjährigen Kinofilm eine gute Figur. Über das Leben eines Helden, seine Versoftung und warum es so lange gedauert hat, bis auch auf der Konsole glorreich Netze gesponnen wurden
Spider-Man ist wieder wer. Als Sam Raimi ankündigte, „Spider-Man“ auf die Leinwand bringen zu wollen, vertiefte sich die eingeschworene Fangemeinde in ausschweifende Spekulationen. Über die zu erwartenden Animationen, die Story und die Besetzung. Die Befürchtungen waren groß, dass Raimis’ Kinospektakel unter den üblichen Krankheiten einer Comicverfilmung leiden könnte. Der Film zu „Spawn“ war an der mächtigen Story von Schuld und Sühne gescheitert, die in 90 Minuten einfach nicht zu erzählen war. „Batman 3“ und „Batman 4“ wirkten wie bunte Kaugummibilder und persiflierten gänzlich das Bild des dunklen Rächers. „Spider-Man“ aber bestand den Test. Das stille Glück in den Augen der Comicsammler, die die Kinosäle der Welt verließen, bewies es – und natürlich das Einspielergebnis. Verfilmungen von Comics sind immer ein schwieriges Vorhaben. Filmschaffende sehen sich mit einem komplexen Universum aus Freunden, Feinden, Sehnsüchten und Pflichten konfrontiert, das kaum versteht, wer nicht selbst Fan ist. Die künstlerische Intention des Regisseurs und seine Sicht auf den Superhelden muss mit dem Geschmack der Masse vereinbart werden. Sah zum Beispiel Tim Burton mit dem richtigen Blick auf Batmans Vergangenheit? Eindeutig orientierte er sich an der Düsternis des Miller’schen Batman. Aber trotz des richtigen Vorbilds für die Comicfigur wirkte der Rächer auf der Leinwand eher wie eine verhungerte Fledermaus und hatte nichts mit der übermenschlichen Bedrohlichkeit von Frank Millers „dunklem Ritter“ zu tun. Aber woran lag das? Wurde zu sehr an den Effekten gespart, oder musste der Held für den durchschnittlichen Kinobesucher einfach sympathischer und eindimensionaler sein, als der durchschnittliche Comicleser ihn sich wünschte? Wahrscheinlich lag es hauptsächlich daran, dass die wahren Fähigkeiten eines Comic-Helden in den Köpfen der Leser entstehen. Egal wie detailliert die Bilder gezeichnet sind – erst im Kopf des Betrachters erhebt sich der kostümierte Millionär Bruce Wayne in den Nachthimmel, und auch die halsbrecherischen Schwingmanöver eines Spider-Man funktionieren nur, weil wir uns vorstellen, wie es sich anfühlt, durch dunkle Straßenschluchten zu wirbeln. Die Zeichnungen im Comic sind die Standbilder eines Films, der sich in unserem Kopf abspielt. Unsere Imaginationskraft ist der Kleister, der beim Lesen des Comics die einzelnen Panels zu halsbrecherischen Manövern zusammenfügt. Die von Erwachsenen selten verstandene Faszination der Comics und ihrer Superhelden basiert genau darauf. Kein Wunder also, dass die Fahrt des Batmobils im Film immer aussah wie der hoppelige Ritt eines Trabi mit Ferrarimotor und Spider-Man in den ersten Zelluloidversionen an seinen Fäden baumelte wie das Urmel aus der Augsburger Puppenkiste. Der Comic ist eine Startrampe für die Fantasie und nicht, wie von Eltern gerne angenommen, ein Fantasiekiller. Die wirklichen Feinde der Einbildungskraft sind die vermurksten Medienauftritte der Superhelden, wie eben „Spider-Mans“ TV-Debüt. Das einzige, was dort überzeugend schwang, war ein schrulliger Trash-Charme, und zwar mit, wenn man sah, wie Peter Parker hölzern Hauswände erklomm und Fieslinge mit einem Fischernetz bewarf. Der Versuch, den bunten „Batman“ der sechziger Jahre auf einen weniger bunten „Spider-Man“ zu übertragen, missglückte. Und bewies als erstes, wie schwierig es ist, Superhelden nicht zu Superidoten verkommen zu lassen. Vor genau diesem Problem standen auch die Entwickler der Spiele, die um das Leben des Netzschwingers gesponnen wurden. Nach der Einführung der ersten Konsolen und des PC ließen die ersten „Spider-Man“-Abenteuer zum Nachspielen nicht lange auf sich warten. Endlich glaubte man ein Medium gefunden zu haben, das den Fähigkeiten des geliebten Helden zu Ehre gereichen würde. Zumindest so lange, bis man den rot-blauen Pixelhaufen auf der heimischen Glotze als Hauptakteur des Spiels identifiziert hatte. Dann machte sich ziemlich schnell Ernüchterung breit. Versprachen die Spieleverpackungen für Atari 2600 und Co. noch eindrucksvolle Superhelden-Action im Stile der geliebten Comics, reduzierte sich das Spielgeschehen auf dem Bildschirm meistens auf nur zwei Aspekte: Klettern und Kloppen. Daran änderte auch steigende Hardware-Power wenig. Zwar war schon nach wenigen Jahren der Green Goblin, einer der härtesten Widersacher Spider-Mans, kein grünes Pixelgestrüpp und Spider-Mans Netzflüssigkeit kein weißer Würfelfaden mehr – doch am Spielprinzip änderte das bis tief in die neunziger Jahre nichts. Wie es sich anfühlt, als Peter Parker seinen Alltag zu bestreiten und als Spider-Man die obersten Stockwerke von New York zu erobern, konnten die Spieler nicht nachvollziehen. Das lag zum einen natürlich noch immer an den vergleichsweise eingeschränkten technischen Möglichkeiten. Immer nur von links nach rechts über den Bildschirm zu hüpfen hatte wenig Superheldenhaftes an sich. Zum anderen wurde Spider-Man als Figur in den Spielen meistens ausgeblendet. Denn während der Spider-Man im Videospiel der immergleiche Prügelknabe blieb, machte er im Comic viele Höhen und Tiefen durch. Die epische Geschichte der Achtziger – Venom, das Überböse, erscheint, Parker heiratet Mary, und ein Alien-Kostüm treibt ihn in eine Sinnkrise – findet ihren Weg in die Spiele nicht. Dabei ist es doch gerade Peter Parkers Persönlichkeit, die ihn so einzigartig unter den Superhelden macht. Hatte der Silver Surfer eine Pubertät? Durfte Thor Liebe empfinden, haderte der Martian Manhunter je mit sich? Und selbst als die Publisher endlich die ersehnte Verknüpfung von Spider-Mans Comicuniversum und der Welt der Pixel versprachen, erwartete Fans und Spieler noch inhaltliche Magerkost. 1992 erschien „Spider-Man: The Sinister Six“. Die Anhänger der Spinne rieben sich die Hände. Doch auch hier war Spider-Man nicht mehr als eine dumpfe Klopp-Tarantel, wurde das Marvel-Universum zu einem platten „Hau Venom!“, „Spritze Carnage tot!“, „Rette Mary Jane!“ verwurstet. Immer die gleichen Moves, immer die gleichen Settings, immer mehr Langeweile. Den Gipfel der Leere markiert der 1997 von Capcom ins Leben gerufene Comic-Prügler „Marvel Vs. Capcom“. Denn auch wenn es Spaß machte, knifflige Tastenkombinationen am lahmen Bison auszuprobieren und darüber zu vergessen dass Spider-Man mehr kann als nur zuschlagen – er war endgültig zur Hülle verkommen, sein Leben, seine Probleme, seine Konflikte, seine Superkräfte: alles egal. Die einzige Ausnahme in dieser Hinsicht war das Text-Adventure „Spider-Man“ der Firma Adventure International von 1985. Auf der 51/4-Zoll-Diskette tummelten sich die wichtigsten Freunde und Feinde des Netzschwingers und erlaubten dem Spieler einen tiefen Blick in das Universum der Spinne. Dafür verlangten die Kampfsequenzen dem Spieler wirklich all seine Fantasie ab. Denn es gab nichts zu sehen als die Worte „Attack Villain!“ und ein paar krickelige Standbilder. Vor zwei Jahren, mit dem Start von Raimis „Spider-Man“-Film, wurde dann ein Spiel angekündigt, das alle vorherigen in den Schatten stellen sollte. Nachdem die Spieler zwanzig Jahre lang mit unvollständigen Ideen und monotonen Spielprinzipien abgespeist wurden, sollte jetzt endlich der große Durchbruch kommen ins riesige, das wundervolle, das wahre „Spider-Man“-Universum. Doch weit gefehlt. Noch immer schwang Spider-Man in einer beängstigend engen Welt umher, und der alte logische Fehler, der schon die anderen Games etwas schrullig machte, fand auch diesmal wieder seinen Weg ins Spiel: Die Netzfäden der Spinne klebten noch immer an einer imaginären Decke über der Stadt. Und so eng New Yorks Häuserschluchten erschienen, so wenig weitsichtig war auch der Blick auf Peter Parkers Welt. Schwingen, schlagen, springen, schießen … Der Film war weit mehr als das. Der High-Budget-Hollywood-Meilenstein hatte mit den Siebziger-TV-Verfilmungen nur noch den Namen gemein. Aus dem schlaksigen Teenie-Star Tobey McGuire wurde die Verkörperung des Biologie-Studenten Peter Parker und aus unserer Vorstellung davon, wie dieser als Spider-Man durch die Straßenschluchten New Yorks schwingt, wurde Realität. Glaubwürdige, dynamische, kraftvolle Realität. Letzteres lag natürlich nicht an den schauspielerischen Fähigkeiten McGuires. Er ist der perfekte Peter Parker, aber der Schlüssel zur Tür in Spider-Mans Welt, die Wände hoch und in die Häuserwipfel New Yorks – das waren Special Effects. Sobald Parker die Maske über das Gesicht streifte, zog das FX-Team von Sony Pictures Imageworks die Fäden. Die heutigen Möglichkeiten, Filme digital aufzubohren, ermöglichten in den letzten Jahren eine Reihe von Superhelden-Verfilmungen, die näher an die Comicvorlagen kamen als alles vorher Dagewesene. Darunter „Hulk“, „Spawn“ und natürlich die grandiosen „X-Men“. Der Schaupieler aus Fleisch und Blut wird durch Special Effects zu einem Superhelden, der glaubwürdig seine Kräfte einsetzt. Absurd daran ist die Tatsache, dass der Film-Spidey just durch das Medium zum Leben erweckt wurde, das ihn zuvor über zwei Jahrzehnte in einem statischen Klopp-und Hangelkoma gehalten hatte: den Computer. Erst durch die Annäherung der Medien Film und Computer wurde Spider-Man auf der Leinwand erstmals glaubwürdig. Dass sich in diesem Punkt Videospiel und Filmbranche immer öfter die Hand reichen, belegt auch eine andere Tatsache: Der Opener des neuen „Spider-Man“-Films wurde von Kyle Cooper kreiert, der auch für die Intros von „Metal Gear Solid 2“ und „Metal Gear Solid 3“ verantwortlich zeichnet. Bei den optischen Standards der jüngsten „Spider-Man“-Verfilmung sind die aktuellen Konsolentitel natürlich noch nicht angekommen. Doch Titel wie „GTA: Vice City“ und „Die Sims“ beweisen, dass Spiele zumindest auf der erzählerischen Ebene endlich bereit sind, das Tor in Spider-Mans Welt aufzustoßen. Und tatsächlich löst „Spider-Man 2“ von Activision das Versprechen ein, das bereits für das letzte Spiel gegeben wurde. Endlich kann man als Spider-Man den Luftraum von New York beherrschen, sich an Spinnenfäden in atemberaubender Geschwindigkeit durch Straßenschluchten schwingen. Wird von Passanten angesprochen, rettet Schiffbrüchige, liefert sogar Pizza aus. Spider-Man lebt, der Spieler lenkt. Das non-lineare Gameplay, wie wir es aus „Grand Theft Auto“ kennen, gibt uns endlich die Möglichkeit, Spider-Man zu sein, für ihn Entscheidungen zu treffen. Und endlich passen auch seine Moves im Spiel zu den Bewegungsabläufen, die wir seit Jahren in unserem Kopfkino haben, wenn wir an Spider-Man denken. Mit spielerischer Leichtigkeit kann man seinen Superhelden mit dem Analogstick durch New York dirigieren, auf seinem schwindelerregenden Ritt um Häuserecken, auf Hochhausdächer und wieder zurück auf den Asphalt des Big Apple. Alle Special Moves, Fadenspritzattacken und Prügel-Combos, die uns durch das jahrelange Studium der Comics präsent sind, können wir erlernen. Sogar das Einspinnen und Aufhängen der Gegner in einem Kokon ist jetzt möglich. New York ist endlich keine Kulisse mehr. Auf der Straße fahren Autos, auf den Bürgersteigen gehen Menschen, und wenn man will, kann man als Spider-Man sogar Geschäfte betreten. Überall warten Aufgaben auf ihren Helden, überall passiert das pralle Leben. Dann wieder hockt unser Alter Ego auf einem Sims, blickt herunter in die Straßen New Yorks und sinniert wie in den Comics über sein Leben als Superheld unter Menschen. Mit all diesen Spielmöglichkeiten zeigt das Entwicklungsteam „Treyarch“, dass es verstanden hat, was den vorherigen Spielen fehlte: Nicht mehr das Prügeln bestimmt Spider-Mans Leben, sondern sein Alltag. Doch so abhängig der erste gelungene „Spider-Man“-Film von der Computertechnik war, so eng war auch der Wille, das erste überzeugende „Spider-Man“-Spiel zu designen, mit dem Siegeszug des Blockbusters verknüpft. Erst der weltweite Erfolg von „Spider-Man“ über die Comicszene hinaus spornte offensichtlich die Entwickler an, gleichzuziehen. Dass die Parallelen aber nicht nur inhaltlicher oder qualitativer Natur sind, zeigt auch die hohe Geheimhaltungsstufe des Publishers Activision. Testmuster werden erst zum Starttermin des Kinofilms „Spider-Man 2“ rausgegeben, und in den Präsentationen für die Vorabberichte der Fachpresse wurde nicht einmal verraten, wer die Bösewichte sind, die Spider-Man bekämpfen muss. Nach zwanzig Jahren Stillstand macht der Videospiel-Spider-Man also einen Riesensprung in Richtung Comicvorlage, was ein kleines Detail charmant beweist: Endlich heftet Spidey seine Fäden nicht mehr an die New Yorker Smog-Glocke, sondern schwingt sich tatsächlich von Hochhaus zu Hochhaus – so realistisch wie im Film und schon fast so hübsch wie in den Comics. Text: Thilo Mischke, Michail Hengstenberg