Lichtgeschwindigkeit
Streetracing gibt es schon lange. Spiele zu dem Thema auch. Doch erst "Need For Speed: Underground" zeigt uns, was es heißt, seinen eigenen Verstand zu überholen
Kristian ist nervös. Alle paar Sekunden knetet er das Lenkrad seines Honda Civic. Oder er legt den ersten Gang ein und nimmt ihn nach wenigen Augenblicken wieder heraus. Immer und immer wieder. Ab und zu, zwischen Lenkrad kneten und Gang einlegen, jagt er den Motor hoch. Jedesmal wenn er wieder vom Gas geht, knallen die Fehlzündungen mit einem lauten Bang durch die Nacht. Es ist tiefdunkel im Industriegebiet von Billwerder, einem Vorort von Hamburg. Ganz schwach dringt das Licht der Containerterminals vom Hafen herüber. Ohne die Scheinwerfer der zwanzig Autos, die in zwei Reihen links und rechts von Kristian stehen, wäre die Straße ein schwarzes Loch. Genau deswegen kommen sie her, Kristian und seine Freunde. Weil sie hier unbehelligt ihre Rennen fahren können. Vierhundert Meter Vollgas, die klassische Viertelmeile, immer zwei Autos gegeneinander. Neben Kristian steht Johann in der Startaufstellung. Sein BMW M3 ist sein ganzer Stolz, auch er ist nervös. Kristian lässt wieder den Motor aufheulen, hält die Drehzahl bei 4000 Umdrehungen, es sind nur noch wenige Sekunden bis zum Start. Die scharfe Nockenwelle, die Kristian erst letzte Woche in den Vtec-Motor des Honda eingebaut hat, brüllt ihr brutales Lied. Dann lässt der Starter zwischen den zwei Wagen die Arme fallen. Mit durchdrehenden Rädern sprinten sie los. Bei fünfzig Kilometer pro Stunde schaltet Kristian krachend in den zweiten Gang, zieht ihn bis knapp einhundert Sachen hoch, bevor er wieder schaltet. Es riecht nach verbranntem Gummi. Ein ähnliches Gefühl eröffnet sich jedem, der „Need For Speed: Underground“ in seine Konsole einlegt. Der neueste Teil des Rennspielklassikers von Electronic Arts reitet auf einer Welle mit, die vor drei Jahren mit dem Film „The Fast And The Furious“ ins Rollen kam und dieses Jahr mit der Fortsetzung „2Fast, 2Furious“ ihren neuen Höhepunkt fand. Sowohl im Spiel als auch in den Filmen geht es um illegale Straßenrennen und ihre Stars: aufgebohrte und bis weit über den Grenzbereich des guten Geschmacks verzierte japanische Autos, deren Fahrer in einer Parallelwelt aus Tuningteilen und Geschwindigkeitsrausch ihr Dasein fristen. Vor allem in den USA sind japanische „Import Cars“ auf einmal der letzte Schrei, der Handel mit Tuningteilen direkt aus Japan ist inzwischen ein eigener Industriezweig, Lieferzeit keine 24 Stunden. Doch auch in den Unfallstatistiken der US-Polizei zeigt die Trendkurve steil nach oben. Nicht wenige Jugendliche kletterten nach „2Fast, 2Furious“ vom Kinosessel direkt in den Autositz, um ihren Leinwandhelden nachzueifern, und zerschellten mit ihren Wagen an der Realität physikalischer Gesetze. Dabei sind Straßenrennen keine neue Erfindung. Vor allem in den USA haben die „Quarter Mile Races“ eine lange Tradition. Ende der sechziger Jahre erlebten sie ihren ersten Boom, als sich die „Motor City“ Detroit in Form der so genannten Muscle Cars eine PS-Schlacht sondergleichen lieferte. Mit bis zu 7,2 Litern Hubraum und mehr als 400 PS liefen bei allen amerikanischen Autofirmen wahre Monster vom Band, die aus dem Verkaufsraum heraus die Viertelmeile dominierten. Sie waren billig, und sie waren schnell – „bang for the buck“ hieß die Zauberformel, mit der sich die amerikanische Jugend ihre Nächte verschönerte. Auch in Japan hat Streetracing eine lange Tradition. Doch dort haben die Rennen auf den Stadtautobahnen von Tokio oder Yokohama eine viel tiefere Bedeutung als überall sonst auf der Welt. Es geht nicht einfach nur um schnelles Fahren und möglichst viel Adrenalin im Gehirn. Streetracing ist für viele Japaner eine spirituelle Erfahrung. Bei 380 Kilometern pro Stunde erforschen sie mit ihren Nissan Skylines oder Toyota Supras den schmalen Grat zwischen Leben und Tod und überwinden so ihre eigenen Ängste. Viele von ihnen tun sich in Clubs zusammen, die mit ihrem Ehrenkodex die Tradition der Samurai fortführen. Wer Mitglied werden will, muss oft erst jahrelang Verantwortung und Selbstbeherrschung beweisen, bevor er den begehrten Mitgliedsaufkleber auf sein Auto pappen darf. Von derartigen Auflagen halten Kristian und seine Freunde nicht besonders viel. Sie wollen einfach nur schnell fahren. Sich miteinander messen, ihren Adrenalinrausch genießen. Sie sind auf der Suche nach dem Zustand, der alle Geschwindigkeits-Junkies, egal wo auf der Welt, vereint: der Tunnelblick. Ab einer bestimmten Geschwindigkeit zieht die Umgebung Schlieren, verschwimmt zu einer Streifenkulisse aus Lichtern und vorbeifliegenden Objekten. Der Blick richtet sich nur noch nach vorne und verschmilzt mit der Straße, Angst und Glücksgefühl verbinden sich zu einem schwarzen Loch in der Magengrube. Das Gehirn wird mit Adrenalin geflutet. Genau um diesen Ausnahmezustand geht es in „Need For Speed: Underground“. Zum ersten Mal ist es Entwicklern gelungen, den Tunnelblick in einem Videospiel zu visualisieren. Habib Zargopour, Artdirector von „Need For Speed: Underground“, weiß genau, wie man einen Geschwindigkeitsrausch auf den Bildschirm bringt. Bei Industrial Light And Magic, der Mutterfirma der Computeranimation, war er einer der Kreativen, die das Pod Race aus „Star Wars: Episode 1“ zur besten Szene im ganzen Film machten. Seinen Erfahrungen ist es zu verdanken, dass die Sinne bei „Need for Speed: Underground“ in den Grenzbereich geraten. Die mit Effekten erzielte Wahrnehmungsverzerrung kehrt alles um: Während sich im echten Rennen Geschwindigkeit und Adrenalinausschüttung zum Tunnelblick summieren, ist derselbe bei „Need For Speed: Underground“ Auslöser des Geschwindigkeitsrausches. Die Dunkelheit der Nacht in „Need For Speed: Underground“ verbindet sich mit den unglaublichen Licht- und Lichtreflexeffekten und verwandelt die Stadt in ein Blindfluggebiet, in dem in Sekundenbruchteilen die richtige Entscheidung gefällt werden muss. Der Verkehr auf den Straßen wird zur unberechenbaren Variablen, plötzlich aus Seitenstraßen auftauchende Autos verstärken das Gefühl der Gratwanderung. Deren wahre Faszination entfaltet sich aber erst in der Cockpitperspektive. Ohne Auto in der Bildschirmmitte verdoppelt sich die gefühlte Geschwindigkeit, wird der Fernseher zum Dimensionstor in die Welt des Straßenrennens. Die absolute Krönung dieser Effektorgie ist die Visualisierung der Lachgaseinspritzung. Auf Knopfdruck verwischt die Umgebung endgültig zu Brei, wenn das Auto unter dem Druck der Extraportion PS nach vorne schießt. Eine Lachgaseinspritzung steht auch auf der Wunschliste von Kristian ganz weit oben. Wenn er dafür nicht noch einige Modifikationen an seinem Motor durchführen müsste, wäre sie schon lange an Bord seines Honda Civic. Eine Lachgaseinspritzung, unter Kennern kurz „NOS“ für „Nitrous Oxide System“ genannt, ist der Traum eines jeden Streetracers. Mit ihr lässt sich auf Knopfdruck die Motorleistung für die kurze Ewigkeit von zwei Sekunden um bis zu 150 Prozent erhöhen. Doch für eine derartige Belastung ist Kristians Civic noch nicht reif. Er kann das ziemlich gut einschätzen. Bis auf den Innenraum und die Elektrik hat er seinen Civic schon zweimal zerlegt. Schrauben und Rennen fahren – das gehört für die meisten Streetracer zusammen. Auf der Suche nach Zehntelsekunden durchforsten sie die Zubehörkataloge der Tuningfirmen, und irgendwie macht alles schneller. Geschmiedete Kolben, geschmiedete Kurbelwellen, Aluminiumzylinderköpfe, elektrische Einspritzung, Turbolader – die Liste an PS-Produzenten ist lang, jede Veränderung am Auto auf der Viertelmeile sofort spürbar. Daraus wird schnell eine Sucht, an deren Ende Familienkutschen von der Stange mehr Geld verschlungen haben als ein echter Sportwagen. Doch kein Porsche oder Ferrari oder Lamborghini dieser Welt kann für einen wahren Streetrace-Aficionado seine individuell getunte Karre ersetzen, die in Stunden, Tagen, Monaten und Jahren der Arbeit zu einem Stück persönlichen Ausdrucks geworden ist. Auch das ist Kern des Spiels. Für fast jedes gewonnene Rennen winken neue Teile im Tuning-Menü. Gut, das ist als motivierendes Prinzip in Rennspielen nicht wirklich neu. Und doch sind die Entwickler mit einer Gründlichkeit zu Werke gegangen, die in diesem Genre ohne Konkurrenz ist. Craig Liebermann, der Cheftuner beider „Fast & Furious“-Teile, hat bei der Zusammenstellung der Teile und Hersteller höchstpersönlich Hand angelegt. Selbst Streetracer der ersten Stunde, kann Liebermann auf jahrelange Erfahrung im Autotuning und Streetracing zurückblicken. Mit ausgemusterten Muscle Cars hat seine Leidenschaft angefangen, mit aufgebohrten „Import Cars“ wurde er berühmt. Sein gelb-orangefarbener 94er Toyota Supra aus „The Fast And The Furious“ verschaffte ihm Weltruhm, wurde in Tunermagazinen rund um den Globus abgefeiert. Auch wenn er heute selbst keine Rennen mehr fährt, sondern in seiner Firma „MoviecarZ“ betuchten Autofans oder Hollywood japanische Kraftpakete schnürt, wird auch er das Virus nicht los. Dann steht er an der Ampel, vor sich die leere Straße, und tritt das Gaspedal in die Ölwanne. Seinem Know-how und seinen Beziehungen verdankt „Need For Speed: Underground“ eine lange Liste an Originalteilen und Tuningfirmen, die jedem wahren Fan Tränen der Freude in die Augen treibt. Zusätzlich zu den leistungssteigernden Anbauteilen gibt es im Spiel eine wahrhaft unübersichtliche Zahl an Frontschürzen, Heckschürzen, Seitenschwellern, Lufthutzen, Spoilern, Felgen, Motorhauben und nicht zuletzt eine Million verschiedenfarbiger Aufkleber und großflächiger Vinyls, mit denen sich die Autos nach ganz persönlichem Geschmack, oder aber nach dem Vorbild von „Fast & Furious“ verändern lassen. Und so kommt es schon mal vor, dass man sich beim leidenschaftlichen Zusammenbasteln einer Karre ertappt, deren Fahrer man im wirklichen Leben als hoffnungslosen Proleten verlachen würde. Mit wilden Anbauten und Aufklebern hat sich Kristian zurückgehalten. Als er mit vor sich hinbrodelndem Motor in die Startgasse zurückgerollt kommt, sieht sein Civic bis auf die breiten Reifen und die Tieferlegung sehr zivil aus. „Keinen Bock auf Stress“, sagt er und meint damit, dass der Polizei seine Tuningmaßnahmen gewiss nicht gefallen würden. Für einen Sieg gegen den M3 hat es heute nicht gereicht, aber zum Glück gibt es ja noch eine Menge Teile, mit denen er bestimmt die eine oder andere Zehntelsekunde von seiner Zeit feilen kann. Für heute gibt er sich mit dem zufrieden, was jedem Streetracer das Wichtigste im Leben ist: ein kleiner Moment vom Tunnelblick. Text: Michail Hengstenberg, Fotos: Andy Tipping
Suuper geschrieben Herr Hengstenberg. Sie sollten ein Buch über Streetracing veröffentlichen, ich würde es sofort kaufen. So tolle Texte findet man im www. leider viel zu wenige.